Seit dem 24. Februar 2022 wird die Frage nach der Schweizer Neutralität, die vorher viele Jahre kaum Schlagzeilen produziert hatte, in einem neuen Licht diskutiert. Der Schritt, sich den westlichen Sanktionen gegen Russland anzuschließen, hat eine breite politische Debatte über die Zukunft der schweizerischen Neutralität entfacht. Für viele Kritiker stellt der Beschluss des Bundesrates, der Schweizer Landesregierung, diese Sanktionen praktisch komplett mitzutragen, das faktische Ende der jahrhundertealten Neutralität dar – und dies zu einem Zeitpunkt, an dem sich die geopolitische Lage mehr denn je zuspitzt.
Die Schweiz, traditionell als Vermittlerin in internationalen Konflikten bekannt, steht vor einer fundamentalen Frage: Soll sie sich stärker in das westliche Militärbündnis NATO anlehnen, oder behält sie ihre Unabhängigkeit als neutraler Akteur auf glaubwürdige Art bei?
Um genau diese Fragen ging es bei einem originellen Anlass im Kulturzentrum Konservi Seon, zu dem Zeitpunkt-Herausgeber und Transition-News-Gründer Christoph Pfluger Freunde und Abonnenten geladen hatte. Und sie kamen in Scharen.
Umrahmt wurde der Anlass musikalisch von Karin Jana Beck und Matthias Gerber vom kreativen Sing- und Friedensprojekt Stimmvolk. Die beiden animierten die Gäste zum Mitsingen.
Der Abend begann mit einer Podiumsdiskussion, die von Christoph Pfluger geleitet wurde. Teilnehmer waren nebst dem Schreibenden der Historiker René Roca, der Friedensaktivist Alec Gagneux und Peter König, Makroökonom und geopolitischer Analytiker. Er arbeitete mehr als 30 Jahre lang für die Weltbank, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit (DEZA).
Neutralität wird immer häufiger als veraltete, fast romantische Haltung abgestempelt – dies wurde in der Diskussion deutlich. Der Begriff «Frieden», der lange Zeit als Leitmotiv der schweizerischen Außenpolitik galt, wird zudem zunehmend als leerer Begriff wahrgenommen, der sowohl von Kriegsparteien als auch von den Kriegstreibern selbst als Ziel propagiert wird.
In einer Welt, in der Staaten wie die USA, Großbritannien oder Frankreich das Völkerrecht missachten, um geostrategische Interessen durchzusetzen, wird der Ruf nach militärischer Stärke immer lauter. Eine zunehmende Zahl von Ländern sieht ihre Sicherheit nicht nur in der militärischen Aufrüstung, sondern auch in der Zugehörigkeit zu einer der mächtigen Militärallianzen – allen voran der NATO.
Die schweizerische Regierung und die Mehrheit der politischen Parteien (mit Ausnahme der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und einzelner politischer Außenseiter) vertreten zunehmend die Ansicht, dass Neutralität modernisiert oder zumindest relativiert werden müsse. Ihre Argumentation: In der heutigen Welt, in der militärische Bündnisse und militärische Abschreckung als zentrale Bestandteile der Sicherheitspolitik gelten, könne sich die Schweiz nicht länger in einer passiven, isolierten Position halten. Für viele Politiker bedeute dies eine schrittweise Annäherung an die NATO und militärische Partnerschaften innerhalb der EU. Die Neutralität werde dabei häufig als unflexibel und realitätsfern dargestellt.
Doch nicht alle stimmen dieser Einschätzung zu. Eine überparteiliche Bewegung, die unter dem Banner «NATO oder Frieden?» eine Rückkehr zu einer aktiven Neutralität fordert, könnte das Ruder herumreißen und die Schweiz wieder als ein Land positionieren, das sich nicht nur aus internationalen Konflikten heraushält, sondern aktiv in Friedensprozesse eingreift und diese fördert. Diese Bewegung, die «Bewegung für Neutralität» heißen könnte, würde nicht nur die Aufrechterhaltung der Neutralität anstreben, sondern dieses Prinzip wieder als zentrales Element der schweizerischen Identität verankern.
In der heutigen sicherheitspolitischen Diskussion – so wurde deutlich - wird die Neutralität häufig mit Unsicherheit und Isolation gleichgesetzt. Doch am Abend in Seon wurde klar, dass Sicherheit nicht nur durch militärische Stärke und Bündnistreue gewährleistet werden kann. Vielmehr, so wurde betont, könne die Schweiz durch ihre neutrale Rolle wieder eine vermittelnde Funktion übernehmen und als Brücke zwischen Konfliktparteien auftreten. Neutralität ist also auch ein aktiver Beitrag zur internationalen Friedenssicherung.
Im Gegensatz zur NATO, die in den letzten Jahrzehnten für viele der völkerrechtswidrigen Kriege verantwortlich gemacht werden kann, könnte die Schweiz durch ihre Neutralität nicht nur das eigene Land schützen, sondern auch zu einer stabilisierenden Kraft auf der internationalen Bühne werden. NATO-Interventionen in Ländern wie dem Irak, Afghanistan und Libyen haben zu massiven Zerstörungen geführt und das globale Konfliktpotenzial weiter angeheizt.
Eine Mitgliedschaft oder eine engere Zusammenarbeit mit der NATO würde die Schweiz von dieser Institution – zum Beispiel beim Waffenkauf – abhängig machen und sie in geopolitische Spannungen verwickeln. Dies ist ein Risiko, das viele kritische Stimmen an diesem anregenden Abend als inakzeptabel erachteten.
Laut der einem feinen Nachtessen folgenden angeregten Diskussion war die Notwendigkeit einer «neuen Friedensbewegung» an sich unbestritten. Uneinig waren sich die Teilnehmer über die Frage, ob sie sich im Rahmen des Gegensatzes «NATO oder Frieden» positionieren sollen.
Die anstehende Abstimmung über die Neutralitätsinitiative ist klar der Anstoß für diese neue Bewegung. Die Initiative ist eingereicht und wird im nächsten oder übernächsten Jahr dem Schweizer Stimmvolk zur Abstimmung unterbreitet. Die Gefahr besteht, dass sie im Abstimmungskampf als reines SVP-Projekt dargestellt und wahrgenommen wird, was nicht den Tatsachen entspricht, wie einer der Initiatoren, René Roca, überzeugend darlegte.
Sollte die Initiative scheitern, würde der Bundesrat dies als Freibrief für eine noch stärkere Integration in die westlichen Militärstrukturen verstehen. Für die Initiatoren geht es deshalb nicht nur um eine politische Frage, sondern um eine grundsätzliche Entscheidung über die Rolle der Schweiz in einer sich verändernden Weltordnung.
Wahrscheinlich, so bilanzierte Christoph Pfluger nach dem Anlass, ist das Thema «Neutralität» noch nicht reif für eine breite gesellschaftliche Bewegung. Das Anliegen ist aber zweifellos aktuell und geht über die Grenzen der Schweiz hinaus. Die Idee könnte auch andere Staaten ermutigen, sich für eine friedliche Außenpolitik ohne militärische Bindungen einzusetzen oder bei einer solchen Politik zu bleiben. Der Erfolg der Kampagne könnte daher auch Impulse für eine globale Diskussion über Neutralität und internationale Friedenssicherung geben.
In einer Zeit, in der der Ruf nach Rüstungsaufstockung und militärischer Stärke lauter wird, könnte eine solche Bewegung ein Gegengewicht setzen – für eine Welt, in der Diplomatie und das Völkerrecht wieder als zentrale Mittel der Konfliktlösung angesehen werden.
Kommentar Transition News
Die Auseinandersetzung um die Neutralität der Schweiz ist mehr als nur eine politische Debatte. Sie berührt die Frage nach der Identität des Landes und seiner Verantwortung in einer zunehmend polarisierten Welt. Wird die Schweiz weiterhin ein Symbol des Friedens und der Diplomatie bleiben? Oder wird sie sich der Dynamik der globalen Machtpolitik beugen und ihre jahrhundertealte Neutralität aufgeben? Die Antwort auf diese Fragen könnte weitreichende Konsequenzen für die schweizerische Außenpolitik und das Selbstverständnis unseres Landes haben.
Die Schweiz hat bei der anstehenden Volksabstimmung die Wahl – zwischen militärischer Bündnistreue und der Wahrung einer unabhängigen, vermittelnden Friedenspolitik.
Dieser Beitrag ist Teil einer losen Artikelserie über die schweizerische Neutralität. Der letzte Artikel ist hier zu finden (weitere Links im Beitrag).
Hier ist der Link zur entsprechenden Reportage von Transition TV über diesen Anlass.