In der Schweiz versuchen die Mobilfunkbetreiber im Verbund mit den Bundesämtern BAKOM und BAFU sowie den kantonalen Umweltämtern, das Umweltrecht im Bereich Mobilfunk und Elektrosmog auszuhebeln. Doch jetzt geht der Schuss nach hinten los.
Unter den 500 kommunalen Baubewilligungsbehörden gibt es kaum Personen mit den notwendigen funktechnischen Kenntnissen, um ein Baugesuch für eine Mobilfunksendeanlage angemessen beurteilen zu können. Die übrigen übernehmen die Argumente aus dem 35-seitigen Argumentationskatalog der Swisscom, um Einsprüche gegen Mobilfunksendeanlagen abzuweisen.
Im Stadtrat der Gemeinde Wil (SG) saß aber offenbar ein versierter Beamter. Denn dieser weigerte sich im Juni 2021, der Swisscom eine Bagatellbewilligung für die nachträgliche Aufschaltung des Korrekturfaktors auf drei Mobilfunksendeanlagen zu erteilen. Er verlangte stattdessen ein ordentliches Baubewilligungsverfahren mit Einspruchsmöglichkeit für die betroffene Anwohnerschaft. Daraufhin zog Swisscom die Gemeinde Wil SG vor das Bundesgericht – mit fatalen Folgen für die Mobilfunkbetreiber.
Das kürzlich veröffentlichte Bundesgerichtsurteil 1C_506/2023 vom 23. April 2024 zeigt nämlich, dass die nachträgliche Aufschaltung des sogenannten Korrekturfaktors bei bestehenden Mobilfunksendeanlagen ohne offizielle Baupublikation und ohne Einspruchsmöglichkeit der betroffenen Bevölkerung rechtswidrig ist. Dies bedeutet, dass allein im Kanton Bern in 127 Gemeinden 380 5G-Antennen sofort stillgelegt und einem offiziellen Baubewilligungsverfahren zugeführt werden müssten.
Die Tagespresse hat das Ganze zwar nicht verschwiegen, aber auch nicht breit darüber berichtet. Viel Raum wird dabei den Mobilfunkbetreibern eingeräumt. Christian Gasser, Geschäftsführer des Schweizerischen Verbandes der Telekommunikation, äußerte sich in der Berner Zeitung vom 16. Mai:
«Der jüngste Bundesgerichtsentscheid hat zur Folge, dass bei den Mobilfunkbetreibern und bei den zuständigen Bewilligungsbehörden ein großer administrativer Mehraufwand entsteht. Schlimmstenfalls sind tausende Mobilfunkstandorte betroffen. Dies kommt zu den rund 3000 Mobilfunkanlagen hinzu, welche bereits heute in Verfahren blockiert sind. Damit wird eine kundengerechte Mobilfunkversorgung mit einer effizienten und zeitgemäßen Technologie in der Schweiz weiter stark verzögert.»
Der frühere Monopolist Swisscom gibt sich uneinsichtig und lässt verlauten:
«Swisscom steht im Austausch mit den zuständigen Behörden und hält sich zu jeder Zeit an die geltenden Bestimmungen von Bund und Kantonen.»
Wie diese Woche bekannt wurde, müssen allein im Kanton Bern 380 5G-Sendeantennen in 127 Gemeinden sofort stillgelegt werden, da nachträglich mittels einer Bagatellbewilligung der sogenannte Korrekturfaktor aufgeschaltet wurde. Weitere Kantone werden wohl folgen müssen.
Der Korrekturfaktor erlaubt den Mobilfunkbetreibern, ihre adaptiven 5G-Sendeantennen kurzzeitig mit dem 2,5- bis 10-fachen der bewilligten Sendeleistung zu betreiben. Das bedeutet, dass der Strahlungsgrenzwert (AGW) an den Orten empfindlicher Nutzung (OMEN) über sechs Minuten gemittelt wieder eingehalten sein sollte. Biologisch gesehen ist dies ein massiver Betrug an der Bevölkerung.
Die Bagatellbewilligung ist eine Baubewilligung, bei der die betroffene Anwohnerschaft keinerlei Einspruchs- oder Beschwerderechte hat und nicht einmal benachrichtigt werden muss. Diese jeder demokratischen und transparenten Willensbildung und Entscheidfindung Hohn sprechende Praxis findet durch den genannten Bundesgerichtsentscheid ein jähes Ende.
Das Amt für Umwelt und Energie (AUE) des Kantons Bern teilte am 4. Juni 2024 der Gemeindeverwaltung Steffisburg mit, dass der Kanton Bern dieses Bundesgerichtsurteil respektiere und bei bestehenden adaptiven Antennen für die nachträgliche Gewährung des Korrekturfaktors künftig ein ordentliches Baugesuch verlangen werde. Das AUE empfiehlt den Mobilfunkbetreibern, statt einer Stilllegung aller Anlagen mit Bagatellbewilligung lediglich den Korrekturfaktor auszuschalten.
Mit ausgeschaltetem Korrekturfaktor funktioniert eine adaptive 5G-Sendeantenne jedoch nicht mehr. Eine adaptive 5G-Sendeantenne muss, infolge ausgeschaltetem Korrekturfaktor, auf die deklarierte Sendeleistung heruntergefahren werden. Im Vergleich zur Sendeleistung eines Handys ist das aber hoffnungslos.
Die baupolizeilichen Anzeigen wegen «Bauen ohne Baubewilligung» an 380 Antennenstandorten in 127 Berner Gemeinden, welche den Kanton Bern zur vorläufigen Stilllegung dieser 5G-Sendeantennen zwingen, sind ein Gemeinschaftswerk der Firma «D. Laubschers Plannetzwerk» und den mobilfunkkritischen Vereinen «WIR» und «Gigaherz.ch». Weitere Kantone werden mit weiteren Strafanzeigen folgen. Dafür sorgt bereits heute landesweit der Verein «Schutz-vor-Strahlung».
Kommentar Transition News
Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter. Dieses Prinzip gilt in der Schweiz – außer es handelt sich um ein Offizialdelikt. In Bezug auf die 5G-Antennen, deren Bewilligung die Behörden klammheimlich an allen Beschwerdeverfahren vorbeimogeln wollten, ging der Schuss nun gewaltig hinten hinaus.
Das Bundesgericht gewichtet die in der Bundesverfassung festgeschriebenen Rechte höher als die Verordnung des Bundesrates über nichtionisierende Strahlung (NISV) und das juristischen Spitzfindigkeiten der Bundesämter. Wer das Urteil studiert, erkennt, dass sich das höchste Schweizer Gericht die Sache nicht leicht gemacht hat und den Bewilligungsinstanzen richtiggehend die Leviten liest. Dies ist ein Anfang, dem nun weitere Eingeständnisse in Sachen Gesundheitsschädigung folgen sollten.
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