Die Welt staunt über China. Die offiziellen «Infektionszahlen» sind seit Monaten sehr tief, Schulen und Kinos sind wieder geöffnet, Restaurants und Clubs sind voll. Zudem kursieren Bilder von Poolpartys mit Tausenden von Menschen, die ohne Schutzmassnahmen feiern, als habe es nie eine Pandemie gegeben. Dies zudem ausgerechnet in Wuhan, der mutmasslichen Ursprungsregion des Coronavirus. Doch die Massnahmen, mit denen diese «Freiheiten» errungen wurden, waren und sind drastisch und die politische Führung nimmt dabei keine Rücksicht auf psychische und ökonomische Folgeschäden.
Lea Deuber, die China-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, fragt sich im TagesAnzeiger, ob die Menschen anderer Länder – insbesondere westlicher – ein derartiges Regime wohl aushalten würden.
Sie beschreibt einige der Massnahmen, mit denen in China versucht wird, die «Infektionszahlen» auf einem extrem tiefen Niveau zu halten.
Seit der Abriegelung der 11-Millionen-Stadt Wuhan im Januar hat die Volksrepublik immer wieder Millionen Menschen für Wochen in ihre Wohnungen gesperrt.
Zwischen Januar und März befanden sich schätzungsweise 780 Millionen Menschen in einem strengen Lockdown. Oft durften sie ihre Wohnungen nicht einmal für Spaziergänge verlassen. Das galt auch für Teile des Landes, die nur marginal vom Ausbruch betroffen waren.
Kommt es zu lokalen Ansteckungen, greift China zum Hammer. In Wuhan beispielsweise, jüngst aber auch in der Metropole Qingdao im Nordosten des Landes, liess man die ganze Stadt zum Corona-Test antraben.
China hat gleichzeitig die Testkapazitäten so weit hochgefahren, dass es in der Lage ist, bei lokalen Ausbrüchen innerhalb von zwei Wochen Millionenstädte komplett durchzutesten. Möglich wird das durch ein sogenanntes Pooling: Man führt Teile von bis zu 30 Proben zusammen und testet nur die gemischte Probe. Fällt der Tests negativ aus, sind alle Mitglieder des Pools coronafrei. Ist er positiv, können die Einzelproben noch einmal nachgetestet werden.
Kommt es zu lokalen Ausbrüchen, drohen Verantwortlichen wie Bürgermeistern oder Leitern von Gesundheitsämtern politische Konsequenzen. Viele Behörden versuchen, durch besondere Strenge ihre Linientreue gegenüber Peking unter Beweis zu stellen.
Hinzu kommt die extrem restriktive Einreise- und Quarantänepolitik Chinas. Chinesische Staatsbürger dürfen zwar einreisen, der Grenzverkehr ist durch die geringe Anzahl von Flügen aber massiv eingeschränkt.
Einreisende müssen 14 Tage in staatliche Quarantäne, Ausländern wird nur in Ausnahmefällen eine Einreise gestattet. Sie müssen grösstenteils zusätzlich innerhalb von 48 Stunden vor dem Abflug einen negativen Corona-Test und einen negativen Antikörper-Test vorweisen. Sie werden nach der Ankunft in China erneut mehrmals getestet.
Verdachtsfälle und Infizierte isoliert China in zentralen Quarantäne-Stationen, bis das Virus nicht mehr nachgewiesen werden kann.
Vor vielen Gebäudeeingängen gibt es Temperaturmessstationen. In Teilen Chinas sind sogar Erkältungsmedikamente nicht mehr frei verkäuflich. Damit soll verhindert werden, dass sich Menschen mit einer möglichen Infektion zu Hause «verstecken».
Polizisten schreiten mit Wärmebildkameras durch Klassenzimmer und kontrollieren Schüler.
Die Stadt Tianjin rief nach nur einem Fall den «Kriegsmodus» aus.
Die Vier-Millionen-Stadt Urumqi und die Umgebung in der Region Xinjiang musste im Juli für mehr als fünf Wochen in den Lockdown, nachdem eine Handvoll Neuinfektionen entdeckt worden war, inoffiziell verlängerten einige Regionen die Beschränkungen noch.
Fast jede Provinz hat zudem eine – oder sogar mehrere – eigene Corona-Apps. Sie sollen der Kontaktverfolgung dienen und können auch Alarm schlagen, wenn Nutzer sich in einer Region aufgehalten haben, in der es zu einem Ausbruch gekommen ist. Dafür greifen sie aber auch auf zahlreiche Daten der Handynutzer zu, darunter Standort und Personalausweisdaten.
In der Praxis spielt die digitale Überwachung aber eine geringere Rolle als die soziale Kontrolle durch die – in China üblichen – Blockwarte in den Nachbarschaften. Sie sind vielfach dafür verantwortlich, wenn Menschen gewaltsam in ihre Wohnungen gesperrt werden. Sie überwachen die Einhaltung von Quarantänevorschriften und stellen auch eigene Regeln auf. Wer gegen Massnahmen verstösst, wird blossgestellt. Einige Aufseher ketteten Einwohner in Urumqi als Strafe an Laternenpfähle, die Regierung hat immer wieder auch zum Denunziantentum aufgerufen.
Opfer der harten Massnahmen haben kaum Möglichkeiten auf eine Entschädigung, Versuche, sich rechtlich gegen das Vorgehen der Behörden zu wehren, werden gewaltsam unterdrückt. Menschen, die zum Beispiel durch den Lockdown in ihrer Region lebensnotwendige Behandlungen in Krankenhäusern nicht antreten konnten, oder Arbeiter, die monatelang an Orten feststeckten, ihre Jobs oder Unternehmen verloren haben, sagen häufig, sie hätten eben Pech gehabt. Andere sagen aber auch, sie hätten noch Glück gehabt. Sie lebten noch – ausserdem sei das Virus jetzt ja unter Kontrolle.
Nach den Massenprotesten im Februar, als Millionen die Regierung für die anfängliche Vertuschung in Wuhan kritisierten, setzt Peking heute alles daran, den Sieg über das Virus zu betonen. Die Helden der Krise werden gefeiert, die Opfer spielen kaum eine Rolle. Viele Kritiker sind in den vergangenen Monaten verhaftet worden oder verschwanden. Auch Journalisten befinden sich darunter.
Im Standard ist zu lesen und zu sehen, wie in chinesischen Städten fahrende Roboter mit Wärmebildkameras patrouillieren. Diese können auch überprüfen, ob Menschen Atemschutzmasken tragen und die Polizisten in den Polizeistationen können Verdächtige via Roboter nach ihren Ausweisen fragen.