Während der Sommermonate und nach dem Medienstreit um «seine Studie», die das Ansteckungsrisiko durch Kinder belegen sollte, war es still um den Mann aus der Charité geworden. Presseinterviews gab Prof. Christian Drosten schon lange nicht mehr, nur in dem ihm auf den Leib geschneiderten NDR-Podcast «Coronavirus-Update», in dem er der alleinigen Deutungshoheit der Pandemie und des Virus sicher war, meldete er sich ab Anfang September öffentlich wieder zu Wort.
Umso erstaunlicher, dass er sich kürzlich den Fragen eines Journalistenduos vom Berliner Tagesspiegel stellte. Sascha Karberg, seines Zeichens Biologe und Wissenschaftsjournalist, sowie Deike Diening, studierte Publizistin und Referentin unter dem Motto «Vertrauen verspielen, Vertrauen gewinnen», wurden als Drostens kompetente Gesprächspartner aufgeboten.
Wellenreiterei
Wenig clever und noch weniger investigativ eröffneten sie das Interview mit der Frage, ob die Wiederaufnahme des regelmäßigen Podcast’s nach der Sommerpause ein Zeichen dafür sei, dass «wir am Beginn der zweiten Welle stehen».
Doch obwohl es Prof. Drosten selbst war, der noch im Frühjahr das Wesen der Pandemiewellen in unser aller Gedankenwelt und Wissen katapultiert hatte, wollte er plötzlich so rein gar nichts mehr davon hören: «Also diese ganze Wellendiskussion. Eine Welle erkennt man erst im Nachhinein. Und sie ist ja nichts Unausweichliches, etwas, was von alleine über uns schwappt. Wir alle sind die Welle.»
Das hörte sich vor einem halben Jahr ganz anders an. Als es um «flatten the curve» ging, prognostizierte er die nächste Welle, von der er nur hoffen konnte, dass sie leichter ausfiele. Erfahrungen, so Prof. Drosten damals, hätten gezeigt, dass bei Nichtintervention eine zweite Welle weitaus schlimmer als die erste sein könnte.
Bedenkt man jedoch, was die Form einer Welle charakterisiert, hat er mit seiner Aussage «Wir alle sind die Welle» mehr als Recht: Tatsächlich schwimmt mittlerweile ein kleiner Teil der Gesellschaft auf dem Kamm, während das Gros sozial und ökonomisch im Wellental nach Luft hechelt.
Forschen oder Schwadronieren, was ist die Aufgabe der Wissenschaft?
Selbstverständlich wurde diese Frage nicht gestellt, sondern weitaus eleganter wollten die Interviewer wissen, was für die Bekämpfung einer Pandemie wichtiger sei, das Praktizieren von Wissenschaft oder das Reden über Wissenschaft.
«Man muss die ganze Bevölkerung mitdenken lassen», erklärte Prof. Drosten sein verbales Engagement, und trotzdem war währenddessen die Wissenschaft nicht auf der Strecke geblieben, denn «wir haben helfen können, als wir im Januar den ersten Diagnostik-Test für Sars-CoV-2 entwickelt und damit dafür gesorgt haben, dass er in Deutschland schon verfügbar war, bevor die erste Welle kam».
Für die unmittelbare Zukunft stellte der Virologe einen zweiten Meilenstein im Kampf gegen das Virus in Aussicht, wiederum unter seiner Leitung kreiert vom Team der Berliner Charité. «Derzeit helfen wir, Schnelltests für Sars-CoV-2 möglichst noch in diesem Herbst auf die Straße zu kriegen – buchstäblich: Ich würde mir wünschen, dass so wie jetzt die Masken in den Pfützen schwimmen, im Spätherbst die Teststreifen der Schnelltests dort liegen, sie also so verbreitet wären, dass sie direkt zur Kontrolle der Epidemie beitragen können.»
Zur Kritik des «Netzwerkes evidenzbasierte Medizin» befragt, das eine hohe Rate falsch positiver Testergebnisse bemängelt, erwiderte Prof. Drosten, dort hätte man ungeeignete Daten eines «Ringversuchs», der für den Sars-CoV-2-Test eine Rate von 1,4 Prozent falsch positiver Ergebnisse angibt, als Grundlage genutzt. «Der Ringversuch hatte aber gar nicht zum Ziel, die Spezifität des Tests zu bestimmen. Insofern hat das Ergebnis nichts mit der Realität der Coronavirus-Testung zu tun. Die Labore benutzen alle mindestens zwei Tests», versicherte er.
Quarantäne oder Impfen
Nach der missglückten Studien-Veröffentlichung zur Infektiosität von Kindern im Mai, deren wenig später neu publizierte zweite Version noch immer im Peer-Review-Verfahren verharrt, holen Prof. Drosten und sein Team zum nächsten wissenschaftlichen Paukenschlag aus: Sie wollen in einer Studie zeigen, wie der PCR-Test mit der eigentlichen Infektiosität korreliert. «Das heißt, wir können jetzt nicht mehr nur sagen, ob jemand infiziert ist, sondern auch, ob er zum Zeitpunkt des Tests eine infektiöse Virusdosis trug», führte der Virologe aus. Ziel sei es, das Ansteckungsrisiko zu bestimmen. Trotzdem gebe auch das keinen Grund zur Entwarnung, wie Drosten mahnend hinzufügte: «Also Vorsicht! Wer Kontakt hatte, sollte sofort in Quarantäne.»
Auch gab er in dem Interview unumwunden zu, dass die ersten Impfstoffe wahrscheinlich nicht perfekt sein werden. «Es könnte schon sein, dass sie nicht so stark wirken, wie man sich das wünscht. Wenn beispielsweise gemeldet wird, dass eine Studie vergrößert wird, könnte das auch bedeuten, dass man wohl mehr Menschen impfen muss, um überhaupt einen Effekt feststellen zu können. Und über seltene Nebenwirkungen kann man jetzt auch noch nichts sagen.
Aber dass es im nächsten Jahr einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 geben wird, diese Hoffnung habe ich. Darauf basiert unsere gesamte Strategie.»
Viel Testen, viel Impfen? «Viel hilft viel» gehörte bislang nicht zu den Grundregeln der Medizin, sondern eher die aus Erfahrungen erlangte Weisheit eines Paracelsus: Sola dosis facit venenum. (Nur die Dosis macht das Gift.)
Öffentliche Lobpreisung
Am kommenden Donnerstag, exakt zwei Tage vor dem «Tag der deutschen Einheit», soll Prof. Christian Drosten mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland geehrt werden. Unter dem Motto «Vereint und füreinander da» will der Bundespräsident in einer feierlichen Zeremonie im Berliner Schloss Bellevue jenen Mann, dem die Bundesregierung vermutlich die Rettung Tausender Leben zuschreibt, mit höchsten staatlichen Weihen versehen.