Der US-Friedensaktivist und ehemalige CIA-Analytiker Ray McGovern ist erstaunt, dass die russische Führung trotz aller schlechten Erfahrungen immer noch der US-amerikanischen Seite vertraut. Und er warnt vor den Folgen, wenn wie beschlossen ab 2026 neue US-amerikanische Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert werden. Das sagte er mehrmals bei öffentlichen Auftritten während eines etwa zweiwöchigen Aufenthaltes in Deutschland. Diesen absolvierte er gemeinsam mit der Friedensaktivistin Elizabeth Murray, die bis Anfang der 2000er Jahre ebenfalls als CIA-Analytikerin für den Nahen Osten tätig war.
McGovern (85) war in den 1980er Jahren hochrangiger CIA-Analytiker mit Spezialgebiet Sowjetunion/Russland, über das er die Präsidenten Ronald Reagan und George Bush persönlich informierte. 1990 ging er in Frührente und gründete im Januar 2003 zusammen mit anderen ehemaligen Geheimdienst-Mitarbeitern die «Veteran Intelligence Professionals for Sanity« (VIPS). Sie setzen sich nach dem Motto «Sagt den Mächtigen die Wahrheit» gegen den Missbrauch von Geheimdienstinformationen ein. Murray ist ebenfalls Mitglied der Gruppe, nachdem sie zehn Jahre später nach McGovern die CIA verließ.
Die beiden waren unter anderem neben zahlreichen weiteren internationalen Gästen, die live oder per Video teilnahmen, zu einer Konferenz des Schiller-Institutes eingeladen worden. Die zweitägige Veranstaltung am 12. und 13. Juli in Berlin unter dem Motto «Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf!» suchte nach Wegen, wie die internationalen Beziehungen neugestaltet werden können, um Frieden zu ermöglichen. McGovern und Murray nutzten die Reise für zahlreiche Gespräche und Treffen und hatten ein volles Programm.
Am Donnerstag (10. Juli) stellten sie sich beispielsweise bei einem Pressegespräch in Berlin den Fragen von Journalisten, zumeist von regierungskritischen Medien – Vertreter von sogenannten Leitmedien waren dabei nicht zu sehen. Am Folgetag trafen sie sich unter anderem mit Mitgliedern der Eurasien Gesellschaft, bevor sie dann bei der Konferenz des Schiller-Institutes auftraten.
Russland misstraue dem Westen auch in Folge der Nato-Osterweiterung inzwischen weitgehend und zurecht, stellte McGovern bei allen drei Anlässen fest. Trotzdem habe Moskau der Trump-Administration einen Vertrauensvorschuss gegeben, zeigte er sich überrascht. Zugleich ist das Grund für seine Hoffnung, dass es zu einer Friedenslösung in der Ukraine kommt, da die russische und die US-amerikanische Führung wieder miteinander reden.
Der ehemalige CIA-Analytiker, der sehr gut Russisch und auch Deutsch spricht, stellte klar, dass der Krieg in der Ukraine entgegen der Behauptungen der Mainstream-Medien nicht «unprovoziert» war. Ebenso sei der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022 keine «vollumfängliche Invasion» gewesen. Dem widerspreche schon die Zahl der dabei eingesetzten 90.000 russischen Soldaten. Auch der Vorwurf, das russische Vorgehen sei «illegal» sei falsch, sagte er mit Verweis auf Russlands Versuche Ende 2021, den Konflikt diplomatisch und rechtlich zu lösen, was der Westen abgelehnt habe.
Ray McGovern beim Pressegespräch am 10. Juli in Berlin (alle Fotos: Tilo Gräser)
McGovern erwähnte als Beispiel dafür, dass der russische Präsident Wladimir Putin seinen US-amerikanischen Amtskollegen Joseph Biden am 30. Dezember 2021 anrief. Anlass waren die russischen Sorgen wegen der möglichen Stationierung neuer Mittelstrecken- und Hyperschallwaffen in Europa. Biden habe dabei, in Abwesenheit seiner Berater und des US-Außenministers Antony Blinken, zugesagt, dass keine atomar bestückbaren US-Mittelstreckenwaffen in der Ukraine stationiert würden.
Doch als im Januar 2022 Gespräche zwischen US- und russischen Diplomaten begannen, um eine Lösung des Konfliktes zu finden, hätten sich die US-Vertreter unwissend ob der Zusage ihres Präsidenten gezeigt. Beim Treffen der beiden Außenminister Blinken und Sergej Lawrow am 21. Januar 2022 in Genf habe der US-Vertreter seinem russischen Kollegen dann erklärt:
«Hören Sie, wir haben das Recht, Raketen zu stationieren, wo wir wollen, auch in der Ukraine. Wenn Sie wollen, können wir vielleicht über eine Begrenzung der Anzahl dieser Raketen sprechen, aber vergessen Sie den 30. Dezember.»
Es habe seitens der USA keine Bereitschaft gegeben, darüber zu sprechen, ob die Ukraine der NATO beitreten soll oder nicht, auch nicht über die Stationierung von Offensivraketen in der Ukraine, erinnerte McGovern. Das habe sich auch beim letzten Telefonat von Biden und Putin am 12. Februar 2022 gezeigt.
«Das war also das Ende, und zwei Wochen später kam es zu der militärischen Sonderoperation.»
Er erinnerte beim Pressegespräch am 10. Juli wie auch bei der Konferenz zwei Tage später an die nicht eingehaltene Zusage des Westens von 1990, dass die Nato sich nicht nach Osten ausdehne. Zu den Gründen für das russische Misstrauen gehörten auch der von den USA geförderte Putsch im Februar 2014 in Kiew sowie die hintertriebenen Minsker Abkommen.
Der Ex-CIA-Mitarbeiter und heutige Friedensaktivist zeigte sich überrascht, dass die russische Führung trotz allem bereit ist, im Fall des Ukraine-Konfliktes der Trump-Administration zu vertrauen. Der wiedergewählte US-Präsident sei der «Inbegriff der Unberechenbarkeit», sagte er auf eine entsprechende Frage beim Treffen mit den Journalisten.
«Er hat keinen wirklichen Plan, soweit ich das sehen kann, weder im Nahen Osten noch einen umsetzbaren Plan für Europa.»
Aus McGoverns Sicht handelt es sich um «einen Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde». Es gebe aber ein gemeinsames Interesse Russlands und der USA, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Und trotz all der ukrainischen Terrorangriffe mit westlicher Unterstützung, unter anderem auf Teile des nuklear-strategischen Systems Russlands, setze Moskau weiter auf eine Lösung durch Diplomatie, betonte er.
Seiner Meinung nach ist die russische Übermacht gegenüber der Ukraine so groß, «dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Trump erkennt, dass er in der Ukraine keinen wirklichen Sieg erringen kann». Die russische Führung werde wahrscheinlich den Anschein einer Niederlage der USA im von ihr provozierten Stellvertreterkrieg vermeiden. In den USA werde das so umschrieben, dass Moskau bereit sei, «diesem Schwein der Niederlage in der Ukraine Lippenstift aufzutragen».
Der frühere CIA-Analytiker verwies auch auf die frühzeitige Verhandlungsbereitschaft Moskaus, so im Frühjahr 2022. Doch die USA hätten damals einen «weiteren Verrat» gegenüber Russland begangen, als sie Boris Johnson, «diesen großen Clown», nach Kiew schickten. Der habe dem ukrainischen Präsidentendarsteller Wolodymyr Selenskyj übermittelt, er solle aufhören, mit Russland zu verhandeln: «Hör auf damit. Wir wollen Russland schwächen, und wir werden dich so lange unterstützen, wie es nötig ist, okay?»
Ein anderes wichtiges Thema für McGovern, das er immer wieder bei den verschiedenen Anlässen ansprach, ist die geplante Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland ab 2026. Diese können mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden, wie er betonte. Er könne sich nicht erklären, warum der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Vereinbarung mit US-Präsident Biden über die Stationierung traf.
Gegenüber den Journalisten freier Medien sagte der heutige Friedensaktivist, er hoffe «inständig», dass die deutsche Regierung zur Vernunft komme.
«Es gibt keinen strategischen oder taktischen Vorteil, diese Raketen zu stationieren.»
Doch diese Vernunft zeigt sich auch nicht unter dem neuen Kanzler Friedrich Merz (CDU), der die antirussische Politik seines Vorgängers noch verschärft. Und der Verteidigungsminister unter beiden, Boris Pistorius (SPD), kündigte dieser Tage an, in den USA «Taifun»-Startsysteme für Mittelstrecken-Marschflugkörper für die Bundeswehr kaufen zu wollen. Das sind die Systeme, mit denen die angekündigten US-Waffen mit Reichweite bis nach Russland von Deutschland aus abgeschossen würden.
Auch im Gespräch mit Vertretern der Eurasien Gesellschaft erinnerte McGovern an den INF-Vertrag von 1987 zwischen der Sowjetunion und den USA. Mit dem wurden die in den 1980er Jahren im Zuge der gegenseitigen Aufrüstung und Abschreckung stationierten sowjetischen SS-20- und US-amerikanischen Pershing-II-Raketen wieder abgeschafft. Er sei gespannt gewesen, wie Kanzler Scholz auf Fragen deutscher Medien dazu reagierte. Doch dieser habe den lange vorher vorbereiteten Beschluss gerechtfertigt.
McGovern am 12. Juli bei der Konferenz des Schiller-Instituts in Berlin
Auch mit Blick auf die Rolle des Ex-Kanzlers bei der von Biden im Februar 2022 angekündigten Zerstörung der Nord Stream-Pipeline wunderte er sich über die «Unterwürfigkeit» Deutschlands 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Diese «schafsmäßige Ergebenheit» beunruhige ihn sehr, betonte der Ex-CIA-Mitarbeiter. Die alte BRD unter Willy Brandt und Helmut Schmidt habe er anders in Erinnerung.
Mit Verwunderung nahm er zur Kenntnis, dass unter anderem der ehemalige Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Alexander Neu ihm berichtete, es gebe im bundesdeutschen Parlament keinerlei Debatte zu der geplanten Stationierung. McGovern betonte im Gespräch mit der Eurasien Gesellschaft:
«Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn Deutschland beschließt, dieses Abkommen mit den USA über die Stationierung von Mittelstreckenraketen im nächsten Jahr durchzuziehen. Ich frage mich also, ob Sie dieselbe Gefahr sehen. Ich meine, sind sich die Deutschen nicht bewusst, dass dies passieren könnte, dass dies wirklich wichtig ist?»
Russland müsse davon ausgehen, dass die angekündigten US-Mittelstrecken- und Hyperschall-Waffen mit Atomwaffen bestückt werden. Moskau werde in dieser Frage «immer vom Schlimmsten ausgehen». Diese Stationierung und die damit herauf beschworene Gefahr für Deutschland sei «völlig unnötig», so McGovern.
Bei aller Besorgnis zeigte er sich aber überzeugt, dass es keinen Krieg mit Russland geben werde, «weil Russland keinen Krieg will und die Deutschen und die NATO nicht zu einem Krieg fähig sind». Die aktuelle Kriegshysterie und Aufrüstung habe mit dem militärisch-industriellen Komplex (MIK) zu tun, erklärte er und erläuterte bei den Gesprächen dessen Erweiterung zum «MICIMATT»: der Military Industrial Congressional Intelligence Media Academia Think Tank Complex.
Dabei seien die Medien «der Grundstein»:
«Die Medien sorgen dafür, dass der Rest funktioniert, und wer kontrolliert die Medien? Der Rest des MICIMATT, also ist das alles sehr inzestuös, aber die Medien müssen dabei sein und großgeschrieben werden, wenn man MICIMATT sagt.»
Bei der Konferenz des Schiller-Instituts im Berliner «Theater Ost» sprach sich der Friedensaktivist dafür aus, sich den destruktiven Kräften entgegen zu stellen und die positiven Zeichen für einen möglichen Frieden zu erkennen und zu stärken. Dazu gehören für ihn die Tendenzen hin zu einer multipolaren Welt und der zunehmende Widerstand des Globalen Südens gegen die westliche Hegemonie.
«Wir müssen einfach unserem moralischen Gewissen folgen, und diejenigen, die noch ein Gewissen haben, müssen sich mit aller Kraft wehren. Wie machen wir das? Warum machen wir das? Wir machen das, weil es nur uns gibt.»
Notwendig sei eine «gut informierte Bürgerschaft», hatte er am Vortag erklärt und sich für fortgesetzte Aufklärung ausgesprochen. «Wir müssen in den sauren Apfel beißen und herausfinden, ob wir wirklich machtlos sind, in die Mainstream-Medien vorzudringen», sagte der ehemalige CIA-Analytiker. Es gebe «immer noch so viele Menschen, die uns daran hindern, die Wahrheit zu sagen».
«Es steht so viel auf dem Spiel, um Gottes willen. Gibt es nichts, was wir intelligenten Menschen tun können, um etwas zu ändern?»
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