Transition News: Sie waren über 20 Jahre lang Ausbilder an der Landepolizeischule und davor Polizeibeamter auf mehreren Einsatzdienststellen in Berlin. Sie haben also über vier Jahrzehnte Polizeierfahrung. Was war bei der Verhaftung von Heinrich XIII. Prinz Reuß, der Teil einer Reichsbürger-Verschwörung sein soll, so ungewöhnlich?
Gerhard Lyck: Die rechtliche Hürde für eine Fesselung ist nicht hoch, aber sie ist vorhanden. Jeder Fesselung muss ein rechtmäßiger Einsatz vorausgehen, bei dem eine Freiheitsbeschränkung oder -entziehung vorliegt. Um den Adressaten einer polizeilichen Maßnahme zu fesseln, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein: Entweder besteht die Gefahr, dass er andere angreift, Sachen beschädigt oder Widerstand leistet. Die zweite mögliche Voraussetzung liegt vor, wenn die Person zu fliehen versucht oder anzunehmen ist, dass sie sich aus dem Gewahrsam befreit oder von anderen befreit wird. Und die dritte rechtliche Möglichkeit der Fesselung liegt bei einer Gefahr der Selbsttötung oder Selbstbeschädigung vor.
Der 71-jährige Herr Reuß wurde von Spezialkräften umringt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in seiner Seniorenklasse Kickboxmeister ist, ist relativ gering. Die Annahme, dass er noch über 100 Meter in Zehn-Komma-Null laufen kann, ist auch nicht gegeben. Und wenn Herr Reuß sich etwas antun wollte, dann wäre es durch die hohe Zahl an Polizisten zu verhindern gewesen. Welche rechtliche Begründung hatten die Polizisten also, um ihn zu fesseln? Das könnte eher etwas, wie man im Volksmund sagt, für die Galerie gewesen sein. Meine vorsichtige Beurteilung aus der Ferne: Das war rechtlich grenzwertig.
Warum waren Pressevertreter zeitgleich mit der Polizei oder sogar davor am Einsatzort?
Das sieht ganz danach aus, dass hier Herr Reuß vorgeführt werden sollte, indem, von wem auch immer, bestimmte Pressevertreter vorab informiert wurden. Vielleicht wollte der Rechtsstaat zeigen: «Wir sind jetzt einmal konsequent und das dokumentieren wir mit einer Aktion, die gefilmt oder fotografiert werden kann.»
Mir sind solche Bilder wie bei Prinz Reuß oder Jürgen Elsässer eher suspekt. Da müssten sich eigentlich die politischen Vertreter erklären. Denn egal, was man von Herrn Reuß und seiner Gruppe oder von Herrn Elsässer und dem Compact Magazin hält, ihnen steht die Menschenwürde zu. Und wenn jemand morgens aus seinem Haus geholt wird und er im Bademantel dasteht, wie das bei Jürgen Elsässer der Fall war, dann stimmt irgendetwas nicht. So wird ein Mensch zum Objekt staatlichen Handelns gemacht.
Gibt es überhaupt Reichsbürger? Ist das Thema in der Polizeischule?
Ich habe das Thema nie als Problem empfunden. Ich habe zweimal auf kleinen Feierlichkeiten mit Menschen aus der gutbürgerlichen Mitte gesprochen, die dann erläutert haben, warum das Gebilde Bundesrepublik Deutschland so nicht rechtsgültig sei. Interessante Ausführungen, teils schwer zu folgen, aber einiges klang schlüssig. Ich bin aber nicht Verfassungsrechtler genug, um da stringent gegenzuhalten.
Kommen wir auf das zurück, was die Pflichten eines Beamten in der Bundesrepublik Deutschland sind, nämlich die Gesetze durchzusetzen, die auf Grundlage des Grundgesetzes verabschiedet worden sind. So, und da kann ich jetzt lange darüber spekulieren, ob Deutschland in den Grenzen von 1937 noch gilt oder das Kaiserreich aus dem Jahr 1913, weil es nach dem Ersten Weltkrieg nicht untergegangen sein soll und so weiter. Wo ist die Lösung? Und welche Rolle spielt das für meinen Dienst und für mein Leben?
Stellen Reichsbürger eine Gefahr dar?
Mit ihnen hatte ich niemals bewusst Kontakt. Ich weiß, dass die Zeitung der Gewerkschaft der Polizei einmal einen sehr langen Artikel über Reichsbürger und den Umgang mit ihnen bei Einsätzen gebracht hat. An der Polizeischule wurde das Wesen der Reichsbürger auch im Rahmen des Unterrichts behandelt, aber nicht vertiefend. Und es hat diesen einen Fall gegeben, dass ein Beamter einer Spezialeinheit vor sieben oder acht Jahren von einem sogenannten «Reichsbürger» erschossen wurde. Das wird unter anderem als Beleg genommen, dass diese Szene nicht zu unterschätzen sei. Aber ich erkenne «Reichsbürger» nicht als das, was uns wirklich in Deutschland Sorge machen sollte.
Worauf sollte der Fokus liegen?
Da gibt es ganz andere Faktoren: Seit Jahr und Tag bereitet uns die linke Szene Schwierigkeiten – mit ihrer massiven Gewaltaffinität. Und wenn Polizeibeamte im Dienst mit Gewalt zu tun haben, dann handelt es sich um Betrunkene, Personen, die unter Drogeneinfluss stehen, sowie Männer mit Migrationshintergrund. Und ich meine hier nicht die Japaner, Koreaner, Norweger, Spanier und so weiter. Seit Jahr und Tag ein umfassendes Thema, das würde vermutlich den Rahmen unseres Gesprächs sprengen. Auf jeden Fall sehe ich hier pessimistisch in die Zukunft.
Wir haben massive Polizeigewalt gegen kritische Bürger erlebt. Was hat sich in den vergangenen viereinhalb Jahren im Polizeiapparat verändert? Wurde da ein neues Feindbild erschaffen?
Mit Beginn der Corona-Zeit bin ich in den Ruhestand. Ob sich in der Behörde etwas verändert hat, kann ich nicht sagen. Aber in den vielen Jahren meiner Tätigkeit habe ich keinen einzigen Polizisten erlebt, der aus der Kenntnis heraus, wer für die Polizei als Störer in Frage kommt, ein Feindbild entwickelt hätte. Selbst die Kollegen, die im hinlänglich bekannten Görlitzer Park in Berlin nahezu täglich mit Drogendealern zu tun haben, zeigen immer noch eine erstaunliche Gelassenheit.
Möglicherweise hat mit Corona etwas anderes in den Beamtenapparaten gegriffen und zwar nach dem Motto: «Schaut mal dorthin. Von denen geht die Gefahr aus.» Kritische Bürger wurden als Querdenker, Schwurbler, Corona-Leugner und so weiter diffamiert. Also ich halte es für wahrscheinlich, dass hier steuernd ein Gegner aufgebaut wurde.
Kann der einzelne Polizeibeamte etwas gegen willkürliche Verhaftungen tun?
Was ist eine willkürliche Verhaftung? In dem Augenblick, wenn der Haftbefehl geschrieben ist, hat der Polizeibeamte keinerlei Ermessensspielraum. Er muss die Person festnehmen. Aber im Rahmen der Durchführung einer Festnahme gibt es Spielräume. Und das hatte ich ja versucht vorhin anzudeuten: Ich kann mit Spezialeinheiten, wie der GSG-9 oder dem SEK, die Wohnung stürmen, eine Blendgranate werfen und die Person sofort fesseln. Oder etwas eleganter die Tür öffnen oder gar klingeln.
Die Festnahme muss durchgeführt werden, da gibt es auch kein Vertun. Da hat ja ein Richter dran gesessen, der aufgrund der Erkenntnisse der Ermittlungsbehörden den Haftbefehl ausgesprochen hat. Aber ich kann als Polizeibeamter das «Wie» der Festnahme mitbestimmen.
Wenn ich als Beamter jetzt sehe, draußen steht die Presse, um dieses Spektakel zu fotografieren, würde ich innehalten, zu meinem Vorgesetzten gehen und sagen: «Du, haben wir hier nicht die Möglichkeit, den Mann irgendwie unauffällig aus dem Haus zu kriegen?»
Und bei Herrn Reuß kam ja noch dazu, dass er sich entweder die Maske selbst aufgesetzt hat oder diese aufgesetzt bekam. Die Polizisten liefen mit einer Sturmhaube rum, aber nicht mit der FFP2-Maske. Die hatte nur Herr Reuß auf. Zumindest jeder Oppositionspolitiker müsste dazu einmal dem Innenministerium eine Frage stellen.
Warum geschieht das nicht?
Offenbar wurde ein Bild aufgebaut nach dem Motto: «Der Herr Reuß hat es verdient. Das ist ein ganz Böser.» Aber so etwas sieht der Aspekt der Menschenwürde nicht vor.
Und als Einsatzleiter hätte ich Herrn Elsässer nicht im Bademantel vor die Tür gelassen. So nahe wie die Pressevertreter an seinem Haus dran waren. Klar, es ist nicht einfach, das Spannungsfeld zwischen der Freiheit der Berichterstattung, ohne den Polizeieinsatz dabei zu stören, und die Rechte des polizeilichen Adressaten zu wahren – aber es gibt Möglichkeiten. Dann die Bilder vom Abtransport des Redaktionsmobiliars, das hat ja alles eine Signalwirkung. Ich glaube, dass es hier andere Varianten zur Bewältigung des Einsatzes gegeben hätte.
Wie beurteilen Sie das Vorgehen der Polizei gegen die Menschen, die während der sogenannten «Pandemie» für ihre Grundrechte auf die Straße gegangen sind?
Ich weiß nicht, welche Leitlinien in den Polizeipräsidien entwickelt wurden. Ich wünschte mir, dass die Polizeipräsidenten der Städte der Bundesrepublik Deutschland sich einmal zusammengefunden hätten, um sich gemeinsam die Bilder der Demonstrationen gegen die Regierungsmaßnahmen verbunden mit dem Einschreiten der Polizei anzusehen. Und dann die Frage stellen: «Wollen wir das als Polizei so?»
Wenn wir uns ansehen, mit wem es die Polizei ansonsten als Störer zu tun hat – die Personenkreise hatte ich ja vorhin schon benannt. Und jetzt geht plötzlich der 55-jährige Steuerzahler auf die Straße, um zu protestieren. Und eine über 70-jährige Frau wird im Kreuzfesselgriff abgeführt. Das ist für mich unvorstellbar – wenn ich mich in meine Zeit als junger Polizist zurückversetze –, dass ich eine ältere Dame im Polizeigriff abführe, ohne dass die irgendwas Schlimmes getan hat. Vielleicht hat sie eine Ordnungswidrigkeit im Rahmen der Corona-Bestimmungen begangen, aber ansonsten? Das lässt sich doch gewiss auch anders regeln.
Oder eben diese bekannten Bilder, dass Polizisten über eine Rodelbahn jagen, um Abstände zu kontrollieren. Oder eine Filmaufnahme vom Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte. Da war eine Versammlung unter freiem Himmel angemeldet. 15 bis 20 Menschen waren am Einsatzort und die Polizei mit einer halben Hundertschaft. Da saßen zwei Seniorinnen auf der Bank und die Polizei geht wirklich hin und sagt: «Jetzt setzen Sie sich mal auseinander. Zudem schreiben wir eine Ordnungswidrigkeitenanzeige gegen sie.» Und die beiden Frauen waren über 80 Jahre alt.
Solche Einsätze müssen in der Führungsebene reflektiert werden. Es muss auch ein Nachdenken, eine Diskussion innerhalb der Behörden stattfinden und gefragt werden: «Ist das unser Anspruch? Werden wir vielleicht mit Corona von der Politik instrumentalisiert?» Ich glaube nicht, dass dieses Reflektieren stattgefunden hat.
Warum nicht?
Es gab offenbar eine Kategorie gewollter oder akzeptierter Versammlungen, beispielweise Demonstrationen zum Thema Black-Lives-Matter, zum Mietendeckel oder zur Solidarität mit der Ukraine. Und dann gab es Corona-Demonstrationen, bei denen die Polizei ausgesprochen konsequent hinsichtlich der Durchsetzung von Auflagen vorging.
Versetzen wir uns mal in die Zeit des Jahres 2020 zurück. Eigentlich hätte es ja nach der Black-Lives-Matter-Demonstration mit rund 15.000 Teilnehmern eine Überlastung der gesamten Berliner Krankenhäuser mit Corona-Kranken geben müssen. Gab es aber nicht. Und nun müsste die Auswertung erfolgen. Ein Ergebnis wäre gewesen: Corona ist doch nicht so gefährlich.
Führungskräfte hätten folgendes diskutieren können: «Wir hatten jetzt diese Versammlung, danach ist bezüglich Infektionsgeschehen nichts passiert. Wie gehen wir jetzt weiter mit den kommenden Versammlungen um?» Das wäre ein schlüssiges Vorgehen gewesen.
Wie konnte es zu der massiven Polizeigewalt gegen friedliche Bürger kommen?
Irgendetwas ist aus dem Lot geraten, ich weiß aber nicht, wo die Ursache liegt. Ich kann immer nur versuchen, das Ergebnis zu beurteilen. Ich habe Videos gesehen, die mich sprachlos gemacht haben. Und Bekannte von mir sind bei Versammlungen gewesen und haben mir dann von dem ausgesprochen ruppigen Vorgehen der Polizisten berichtet. Es stimmt vieles nicht mit unserer guten Ausbildung überein, der Lehre vom Grundgesetz, den Polizeigesetzen und der erforderlichen Polizeitaktik.
Hat sich denn die Polizeiführung gefragt, ob diese Corona-Demonstranten wirklich eine konkrete Gefahr darstellen? Ist das wirklich der polizeiliche Schwerpunkt, um den wir uns als Polizei bis hin zu Zwangsmaßnahmen zu kümmern haben?
Und offensichtlich hat die Polizei bei den Corona-Versammlungen die wesentlichen Punkte des Brokdorf-Urteils nicht berücksichtigt. Aus diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1985 ergibt sich unter anderem das Element des versammlungsfreundlichen Agierens. Und für ein Verbot beziehungsweise das Auflösen einer Versammlung wurden damals sehr hohe Anforderungen formuliert. Und was haben wir ab Frühjahr 2020 erfahren? Die Polizei hat Versammlungen aufgelöst, nur weil die Mindestabstände nicht eingehalten wurden.
War vielleicht die politische Zusammensetzung der Teilnehmer zu breit gestreut?
Artikel 8 Grundgesetz ist das wesentliche Grundrecht, mit dem die Bürger ihre Unzufriedenheit auch über die Regierung zum Ausdruck bringen können. Da spielt die politische Zusammensetzung der Teilnehmer keine Rolle.
Woran erkennen Politiker und Journalisten denn «rechte» Menschen? Und was ist ein «Rechter»? Waren Mitglieder der sogenannten «Reichsbürgerszene» dabei? Diese begrifflichen Zuschreibungen sind überflüssig und ermüdend. Es gibt doch keine Kontaktschuld.
Wenn in einer Versammlung jemand neben mir steht und der tritt mit mir gegen Waffenlieferungen in die Ukraine ein und ist Mitglied einer grenzwertigen Partei, dann ist mir das in dem Augenblick egal. Lieber mache ich in dem Fall einen Schulterschluss mit jemandem, den ich sonst nicht unterstützen würde, als dass mir hier die Raketen um die Ohren fliegen.
Werden Regierungskritiker als «Delegitimierer des Staates» dargestellt?
Ja, so funktioniert Zersetzung. Das ist ein diabolisches Instrument. Man hat eigentlich gar keine Chance, sich dagegen zu wehren. Wenn zum Beispiel Vereine wie die «Blaulicht-Familie» im Verfassungsschutzbericht von Mecklenburg-Vorpommern erwähnt werden oder die «Polizisten für Aufklärung» im Verfassungsschutzbericht von Nordrhein-Westfalen, dann ist das der erste Stein. Und alle anderen, die über diese Vereine berichten, werden sich immer auf den Verfassungsschutz beziehen. So verstärkt sich das sukzessive. Dieser Stein kommt ins Rollen und keiner fragt mehr, was wirklich die Gründe sind oder wie es zu dieser Erwähnung gekommen ist. Dieses System wirkt. Die Zeichnung «Das Gerücht» von Paul Weber ist aktueller denn je.
Wenn Geheimdienste agieren, halte ich inzwischen vieles für möglich. Und dann gibt es ja jetzt diese Stellen, wo man bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen von anderen Bürgern melden soll. Es scheint, der kategorische Imperativ von Kant ist inzwischen reif für die Mülltonne.
«Delegitimierer des Staates», was für ein törichter Begriff. Den Staat kann man nicht delegitmieren. Es gilt die «Drei-Elemente-Lehre»: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt. Jeder meiner Polizeischüler hätte über den von Innenministerin Nancy Faeser geprägten Begriff nur den Kopf geschüttelt – Achtung, hier spricht Käpt’n Niveau, eine Durchsage an alle: Wir sinken!
Die für mich krasseste Aussage der Corona-Zeit stammt aber von einem Soziologieprofessor [Anm. d. Red.: Heinz Bude], bezogen auf Impfgegner sagte er: «Die kann man nicht nach Madakaskar verfrachten. Was sollen wir denn machen?» Der Madagaskar-Plan war eine Idee der Nazis zur sogenannten Lösung der Judenfrage. Man überlegte, Juden mit Schiffen nach Madagaskar zu transportieren. Dieser Plan wurde schnell fallen gelassen, stattdessen kam es zum Transport in die Todeslager. Angesichts der Bemerkung des Professors ging kein Aufschrei durchs Land. Denken wir doch mal weiter: Die Ungeimpften können wir laut dem Professor nicht nach Madagaskar bringen. Welche Variante bleibt denn? Da frage ich mich, welche Mechanismen in den vergangenen Jahren in Deutschland versagt haben.
Der Staat braucht allerdings die Exekutive, um derartige Auswüchse durchzusetzen ...
Das ist richtig. Also der Staat braucht immer jemanden, der Dinge durchsetzt. Die Zwangsrechte gelten nach herrschender Lehre als Ultima Ratio. Es wird davon ausgegangen, dass der Bürger sich rechtsgehorsam zeigt und den staatlichen Maßnahmen nachkommt.
Was wäre gekommen, wenn es eine allgemeine Impfpflicht gegeben hätte?
Man muss differenzieren zwischen Impfpflicht und Impfzwang. Wenn sich eine vierköpfige Familie nicht hätte impfen lassen, dann hätte das Gesundheitsamt sie dazu unter Androhung eines Bußgeldes aufgefordert, sagen wir mal 10.000 Euro pro Person. Dann hätte die Familie eventuell 40.000 Euro auf den Tisch legen müssen.
Die Frage ist, ob der Staat bereit gewesen wäre, einen Impfzwang durchzuführen – also mit der Polizei, als Inhaber des Gewaltmonopols, die Corona-Maßnahmen mit unmittelbarem Zwang umzusetzen. Dann wäre die Polizei zu uns nach Hause gekommen und hätte meine Frau und mich als gesunde Menschen zwangsweise zum Impfen geführt. Das wäre die Konsequenz gewesen. Das ging mir alles während der Corona-Phase durch den Sinn. Ich habe mich oft gefragt: Was machen die mit uns? Sie missachten unsere Grundrechte.
Das haben sich auch Teilnehmer von Demonstrationen und Montagsspaziergängen gefragt beziehungsweise viele fragen sich das noch immer: Was machen die mit uns?
Wenn die Polizei das mit der linken Szene oder im Kiez in Berlin-Neukölln gemacht hätte, dann wären die Kollegen dort definitiv nicht heil herausgekommen. Gerade die linke Szene ist ja wesentlich mobiler. Was die alles an Wurfgegenständen und Waffen bei sich haben und mit welcher Brutalität die vorgehen, das ist irre. So kenne ich die seit der Hausbesetzerzeit Anfang der achtziger Jahre. Tja, und dann die erlebnisorientierten Jugendlichen aus den Kiezen, die inzwischen auch als «Partyszene» bezeichnet werden.
Aber mit Menschen aus der bürgerlichen Mitte konnte man das offenbar machen. Die haben sich das gefallen lassen. Und wenn jemand eine falsche Rede auf der Bühne gehalten hat, dann sind da sieben Polizisten hin und haben den abgeführt, und die Menge hat dann nur «buh», «pfui», «schämt Euch» gerufen, mehr ist da nicht passiert. Bei Links- oder Al-Quds-Demonstrationen hätte das so nicht geklappt. Da hat die Polizei vielfach Toleranz walten lassen, nach der Devise: «Bloß keine Eskalation.»
Es kommt ja noch was anderes dazu und das muss natürlich auch in einer Lagebesprechung stattfinden: Wir sind davon ausgegangen, dass es sich um die gefährlichste Krankheit handelt, die man sich überhaupt vorstellen kann. Dann verbietet es sich eigentlich, die Situation noch zu verschärfen, indem man die Menschen verdichtet, also gewisse Straßen zumacht, und dann räumt. Und es verbietet sich auch, dass ein Polizist an diese «virusbelasteten» Menschen herangeht. Denn er würde sich ja in Lebensgefahr begeben. Und dann sind Polizisten in Gruppenwagen eng zusammensitzend zu Einsätzen gefahren, um anschließend die Mindestabstände von Menschen im Freien zu überwachen. Das ist kafkaesk. Diese Widersprüche müssen den Beamten doch aufgefallen sein.
Wie kann es sein, dass polizeiliche Standards innerhalb kürzester Zeit über Bord geworfen werden?
Ich frage mich, ob das alles Zufälle waren oder ob es nicht doch gesteuert und eine Generalprobe für ganz andere Sachen war. Die Polizei muss konsequent sein: Deeskalation heißt auch, dass die Lage mit einem schnellen Zugriff beendet wird und sich nicht weiter hochschaukelt. Ich bin ein klarer Befürworter von einem konsequenten Einschreiten. Nur es darf nicht in Maßnahmen kippen, die sich schon von Anfang an als ungeeignet erweisen.
Zu berücksichtigen sind immer das pflichtgemäße Ermessen sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zum Beispiel die Demonstration am 18. November 2020 am Brandenburger Tor: Die Polizei hatte zur Verstärkung der Einsatzkräfte Wasserwerfer aufgestellt. Nach der Auflösung der Versammlung wurden die Menschen mit den Wasserwerfern – mit einem «Sprühregen» – zum Verlassen des Ortes gedrängt. Da fällt mir eine rechtliche Begründung schwer, denn man nahm in Kauf, dass tausende von Menschen im November nass wurden und sich erkälteten.
Zu allem braucht man erst einmal den Entschluss des Polizeiführers des Einsatzes. Die Frage ist auch, wie weit die Politik in den Einsatz mit hinein dirigiert hat und wie weit sich ein Einsatzleiter das gefallen ließ. Gab es danach eine Auswertung des Einsatzes in taktischer und in rechtlicher Hinsicht? Dieser Einsatz hätte meines Erachtens parlamentarisch aufgearbeitet werden müssen. Aber Corona-Demonstranten hatten in der Politik offenbar wenig Anerkennung.
Was passiert, wenn die Polizei die Erwartungen der Politik nicht erfüllt?
Einen Fall gab es in Baden-Württemberg: Da hat ein Polizeidirektor eine Corona-Demo mit 4000 Teilnehmern nicht aufgelöst, da das nicht verhältnismäßig gewesen wäre. Angeblich ist er danach in den Stabsbereich versetzt worden. Ich würde mir wünschen, dass Polizeiführungen ab einem gewissen Punkt sagen: «Das machen wir nicht mehr mit.»
Zum Beispiel bei einem Impfzwang. Aber wo die Grenze ist, wo der Punkt erreicht ist, etwas zu verweigern, das ist schwer festzulegen. Die Radbruch’sche Formel hilft auch nur bedingt weiter. Es ist wirklich keine einfache Aufgabe, diese enormen Konflikte und Spannungen, die die Politik mit zu verantworten hat, nicht ausufern zu lassen.
Auf welche Herausforderungen spielen Sie hier an?
Oje, da fällt mir viel ein. Ich greife nur drei Aspekte heraus: Die seit vielen Jahren ungezügelte Migrationskrise mit den Folgen für die innere Sicherheit, das Funktionieren von Manipulationstechniken, siehe Corona, sowie die Hintergründe und Auswirkungen des Ukrainekonflikts. Es ist beschämend, dass mit deutschen Waffen auf russische Soldaten geschossen wird.
Dann noch eine Bundesinnenministerin, die in ihrem «Kampf gegen Rechts» offenbar keine übergeordneten rechtsstaatlichen Grenzen mehr kennt. Von wem geht hier wirklich die Gefahr aus – in welche Rechtsbrüche sind denn Regierungsmitglieder und andere Politiker verwickelt?
Aber zurück zur Polizei. Nehmen wir diese Szene, in der ein Polizeibeamter im Frühjahr 2021 in der Nähe des Bundestags auf einen 65-Jährigen einschlägt. Der Polizist hat als Schlagverstärkung ein großes metallenes Reizstoffsprühgerät in der Hand. Erst haut er den Mann nieder, dann nimmt er ein bisschen Abstand und sprüht ihn mit Reizgas voll. Der Mann war Epileptiker, blieb am Boden liegen und bewegte sich entsprechend hilflos.
Und als wenn dieser Angriff nicht schon ausgereicht hätte, standen dann mehrere Polizisten um ihn nur herum, ohne schnell zu helfen. Im Gesetz zum unmittelbaren Zwang steht drin, dass der Person, die beim Einsatz verletzt wird, schnellstmöglich Hilfe zu leisten ist. Erst als ein anderer Demonstrationsteilnehmer hinging und sich um den Verletzten kümmerte, setzte auch die polizeiliche Hilfe ein. Wenn ich meinen Schülern im Unterricht das Video gezeigt hätte, hätten die alle gesagt, dass das eine Szene aus einem anderen Land sein muss.
Andererseits wurden Polizeibeamte suspendiert, wenn sie sich öffentlich für die Einhaltung der Grundrechte ausgesprochen haben ...
Da muss ich für die Polizeibehörden auch mal Partei ergreifen: Dieses Verhalten tangiert die Berufspflichten des Polizeibeamten im Bereich «außerdienstliches Verhalten». Daher muss der Dienstherr in irgendeiner Form darauf reagieren, das geht nicht anders. Aber wie weit sollen die Ermittlungen gehen? Und da spielt wieder die Frage der Verhältnismäßigkeit eine Rolle: Klar, Einleitung eines Disziplinarverfahrens, unabhängig davon, wie es ausgeht. Aber der behördliche Wille zur Entfernung aus dem Dienst gegenüber Beamten auf Lebenszeit, die seit vielen Jahren ihrem jeweiligen Dienstherrn treu gedient hatten, das geht zu weit.
Müssten all diese Verfahren gegen kritische Polizisten anhand der RKI-Protokolle nicht neu bewertet werden?
Es ist jetzt amtlich, dass die ganzen Corona-Maßnahmen auf Lug und Trug aufgebaut waren. Daher müsste eine Aufarbeitung jedes einzelnen Prozesses, jedes Bußgeldes und auch der disziplinarischen Maßnahmen stattfinden. Die Behörde müsste beispielsweise zu dem Polizisten Bernd Bayerlein sagen: «Wissen Sie, Herr Bayerlein, heute, vier Jahre später, wissen wir, Sie haben Recht gehabt. Sie hätten das bei ihrer Rede damals verhaltener und linguistisch besser erklären können, aber Sie haben wenigstens Courage gezeigt. Wir beenden jetzt alle unsere Maßnahmen.»
Oder wenn jemand 500 Euro Bußgeld gezahlt hat, weil er die Maske bei einer Versammlung nicht getragen hat, dem müsste man diesen Betrag zurückzahlen.
Ein Bekannter von mir, damals 69 Jahre alt und strafrechtlich nie in Erscheinung getreten, hatte in einer Straße in Berlin, wo Maskenpflicht galt, den Mund-Nasen-Schutz nicht auf. Zwei Polizisten hielten ihn nach dem Ansprechen fest. Er sagte: «Kümmert euch um andere Sachen.» Und versuchte nur, sich aus dem Griff zu lösen. Aber dann ging es los: Er wurde an die Wand gedrückt, durchsucht und gefesselt. Es kam zur Verurteilung «Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte». Nun ist er vorbestraft.
Es muss eine Rehabilitierung geben, weil die staatlichen Maßnahmen zu Corona schon auf falschen Annahmen beruhten.
Können die Bürger noch Hoffnung in die Polizei setzen?
Nehmen wir mal an, wir haben, egal in welchem Bundesland, einen Polizeipräsidenten, der die Behörde zuverlässig ohne große Skandale leitet. Und der sagt: «Ich mache da nicht mit, liebe Politiker. Ihr meint, dass bei einer Querdenken-Demo 15 Hundertschaften voll ausgerüstet dabei sein müssen. Meine Beurteilung der Lage ist eine andere, denn das sind alles friedliche Leute. Ich schicke dort Anti-Konflikt-Teams und drei Hundertschaften hin.» Was würde wohl passieren – würde ihn der Innenminister zum Rücktritt drängen? Ich erinnere mich an den früheren Berliner Polizeipräsidenten Klaus Hübner. Der konnte gegenüber der Politik auch unbequem werden.
Also, wenn die Polizei es schaffen würde, die Corona-Zeit zu reflektieren, dann wären wir schon einen Schritt weiter. Und ich meine das sowohl hinsichtlich der vielen Polizeieinsätze als auch mit Blick auf die interne Umsetzung der Corona-Maßnahmen.
Polizisten wurden recht deutlich aufgefordert, sich impfen zu lassen, und das auch nach den ersten Hinweisen, dass es Impfnebenwirkungen gibt. Ein lieber Kollege schilderte mir aus einer Besprechung, dass eine Führungskraft sagte: «Wir müssen die Nester der Impfunwilligen ausfindig machen.»
Gewaltvorfälle von Polizisten müssen in den Parlamenten thematisiert werden. Dazu gibt es zu viele Videos, über die man nicht hinwegsehen kann. Darüber hinaus würde ich mir wünschen, dass das auch behördenintern diskutiert wird.
Ich verbürge ich mich dafür, dass ich in meinen knapp 44 Dienstjahren wirklich gute Polizeiführer hatte, die Werte auch vorlebten. Ich hatte wunderbare Vorgesetzte, die auch in den allergefährlichsten Situationen während der Hausbesetzerzeit die Übersicht bewahrten. Und sobald wir jemanden überwältigt hatten, war Schluss mit Zwang, weil die rechtlichen Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorlagen. Daher:
Liebe Kollegen, überlegt im Einsatz genau, was Ihr rechtlich mittragen wollt und könnt! Ihr seid nach dem Beamtenstatusgesetz für Euer Handeln voll verantwortlich.
Die Polizeiführungen in der Bundesrepublik Deutschland hätten eine ehrenwerte Aufgabe: Die polizeiinterne Aufarbeitung mit einem wirklich unvoreingenommenen Blick auf die Zeit seit März 2020. Einsätze müssen nachbereitet werden, um es bei den künftigen gegebenenfalls besser zu machen. Das ist ein dauernder Prozess, den wir beherrschen müssen. Wenn das passiert, kann die Polizei ihre Legitimität erhalten beziehungsweise zurückgewinnen. Insofern habe ich diese Hoffnung noch.
Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.