So gut wie jeder Mensch hat einen Mindestschatz an Bibelkenntnis. Am offenkundigsten ist das immer wieder bei den Spöttern. Aus ihrem kleinen Fundus überlieferter Worte zücken sie die immer gleichen Perlen und schmücken damit ihr erhabenes Haupt, getreu dem Sprichwort: «Jeder Mensch glänzt: mit seinem Zynismus oder mit seinem Glauben. Aber er glänzt.»
Als eine solche Perle taucht mir in den Gesprächen immer wieder ein bestimmtes Jesus-Wort auf:
«Wer hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er meint zu haben.» Lukas 8, Vers 18.
Leichte Beute für einen Zyniker. Die Geschäftswelt scheint es zu bestätigen. Das Vermögen der Schweizer Milliardäre ist seit Anfang 2020 ums Anderthalbfache gestiegen. Sie hatten schon, und ihnen «wurde gegeben». Vielen Ladenbesitzern wurde dagegen in dieser Zeit das genommen, was sie zu haben meinten.
Jesus selber als Zyniker? Wohl eher nicht. Es geht hier nicht ums Geld, sondern um die eigenen Wurzeln. Wenn’s drauf ankommt: Sind sie dann da und tragen oder war bisher alles nur eine Illusion von Sicherheit? Dazu zwei Beispiele. Sie liegen rund hundert Jahre auseinander.
Bis 1934 war Hermann Rauschning Senatspräsident der Freien Stadt Danzig, der letzte frei gewählte. Wie viele andere hatte auch er sich von der neuen deutschen Führung viel, sehr viel versprochen, gerade für die von Polen misshandelten Deutschen im früheren Westpreußen. Schon bald traf er sich in Berlin mit den Leitern der Bewegung – und war zutiefst erschüttert von deren Nihilismus.
Und erschrocken über seinen eigenen schwachen Kirchenglauben. Gegen einen derartigen Ungeist wäre der machtlos. «Was war schon echt an diesem verbürgerlichten, zur blossen Morallehre verwässerten Gute-Stube- und Sontagvormittags-Christentum?» fragte er rückblickend auf diese Erschütterung in seinem Heftchen «Der saure Weg» von 1958, Seite 9.
Rauschning musste fliehen aus Danzig, eindrucksvoll niedergelegt in seinem Buch «Versuch und Bruch mit Hitler» (amerikanische Übersetzung «Make and Break with Hitler»). Unterwegs fand er sich in einem «billigen Hotelzimmer» neben einem Bahnhof wieder (Weg, Seite 7).
«Ein Buch liegt auf dem Nachttisch. Unlustig greift er danach», erzählt Rauschning später von sich selbst; «blättert gedankenlos, absichtslos. Wie man es im Wartezimmer tut. Er liest Worte, zusammenhanglos, da und dort einen Satz. Sein Blick bleibt auf einer Stelle haften. Ein Satz schlägt in sein Bewusstsein. ‹Sie werden es auf die Länge nicht treiben›, liest er. ‹Denn ihre Torheit wird offenbar jedermann.›»
(2. Timotheus 3, Vers 9) (Der saure Weg, Seiten 7f.)
Er blättert weiter und stösst auf die Gebote des Mose. Das führt ihn zu der Frage: «Was ist das Gesetz? Gibt es ein immer und allen verbindliches Gesetzmäßiges, das hinter allen positiven Gesetzen und Ordnungen als das Rechtfertigende steht?» Ist das «eine andere Wirklichkeit, eine verborgene (...) verheissene Wirklichkeit, zu der der Mensch berufen sei?»
«Plötzlich steht man am Graben einer Entscheidung, einer letzten, einer unentrinnbaren. Ja oder nein. Der Mensch ist g e s t e l l t. (...) das bisher wirr Gefühlte und halb Gedachte» schliesst sich «zum kristallenen Erkennen zusammen».
«Es wird aus dem bloßen Kennen zum Erkennen und endet im Bekennen», beschreibt er dieses Widerfahrnis gut zwanzig Jahre später. (Weg, Seiten 15 und 26)
Hermann Rauschning meinte zu haben – und hatte doch nicht. Am Boden angekommen, «hatte» er dann – und lebte seine neue Freiheit in seiner neuen Heimat Amerika als «politischer Schriftsteller ersten Ranges» (Golo Mann) und als freimütiger Glaubensmann.
2021. Erneut ist jemand auf der Flucht vor den neuen Herrschern. Nach einer traumatisierenden Hausdurchsuchung rettet sich der deutsche Immunologe Stefan Hockertz in die Schweiz. Mittellos und orientierungslos findet er immer wieder Unterschlupf bei guten Menschen, und «auf deren Tisch lag immer eine Bibel», wie er berichtet. Die Gemeinschaft dort und das vereinte Gebet machen ihm bleibenden Eindruck.
Er beginnt selber mit dem Bibellesen. Der Aufruf «Fürchte dich nicht» wird ihm zum Leitmotiv. Mal liest er gezielt, dann wieder schlägt er das Buch nur willkürlich auf und rechnet damit, an einer guten Stelle zu landen. Und stellt fest, «dass vieles, das ich dort lese, auf die heutige Zeit zu übertragen ist».
War ihm die Bibel früher nur ein «Buch im Schrank mit einem schönen Rücken», in dem er aber nicht gelesen habe, so ist Hockertz nun überzeugt, dass wir «mit Gottes Hilfe, durch das Vertrauen in sein Wort, die Furcht hinter uns lassen».
Sie hatten – Hermann Rauschning wie Stefan Hockertz – und hatten doch nicht; einen bloßen Kirchenglauben der eine, ein schönes altes Buch der andere. Als es drauf ankam, erwies sich weder das eine noch das andere als Fundament.
Beiden wurde es erst gegeben. Dann aber verfestigte es sich. Siehe oben.
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Wort zum Sonntag vom 23. Juli 2023: Gehorsamsopfer, damals und heute
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
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