Ein «grosses Heimweh» nennt der Journalist Dirk Fleck das Leben. In immer neuen Anläufen nähert er sich dieser ebenso bedrängenden wie unstillbaren Sehnsucht des Menschen. Die Dichter und Philosophen haben sie seit jeher umkreist.
Auch der Pessimist Arthur Schopenhauer gesteht sie ein, wenn er «das Leben der allermeisten Menschen» als («von außen gesehen») «nichtssagend und bedeutungsleer» einstuft. Es muss also ein Maßstab da sein, der ihm dieses Urteil nahelegt. Vielleicht wird der auch lediglich empfunden, wobei dieses Gefühl, diese Ahnung, zugleich konstitutiv zu sein scheint für das Humanum an sich. Es ist nicht auszutreiben.
«Die höhere Einsicht und der grössere Anspruch des Menschen machen seine Situation tragisch», schreibt Alfred Döblin in «Der unsterbliche Mensch» (Seite 119). Dieses Wesen Mensch «kann in die allgemeine Harmonie nicht eingehen, weil es ein Gefühl von Ganzheit hat, die es in der Natur nicht realisieren kann, – es hat genug Einsicht, um zu bemerken, dass es nie dazu gelangt. Es sieht aus, als wäre ein Gift in diese Kreatur geträufelt.» (S. 119)
Gift oder Lebenselexier? Von erstorbener Sehnsucht jedenfalls erzählt Schopenhauer, und Dirk Fleck folgert zu recht, daß die Summe solcher Menschen zu einer «Verfügungsmasse» degeneriere, mit der sich «trefflich Politik betreiben» liesse. Entsprechend abgestumpft seien in unseren Tagen viele Menschen gegen Vereinnahmungen und Verdrehungen jeder Art. Von fast leeren «Kraftspeicher[n] für die Wachgebliebenen in unserer narkotisierten Zivilgesellschaft» schreibt Dirk Fleck des weiteren.
Sehnsucht und Heimweh als «Kraftspeicher»? Die unerreichbare Harmonie (Döblin) als Triebfeder für den Geist? Wie soll das gehen? Freizumachen hätten wir uns von den gängigen Narrativen, «unsere eigenen Geschichten» seien zu erzählen, wir müssten – wie Fleck den Dichter Albert Camus zitiert – «endlich aus unserer lähmenden Zuschauerlethargie ausbrechen, selbst aktiv und zu Schöpfern werden».
Der Appell ist gesetzt. Woher bezieht er seine Kraft, sein Drehmoment? Wir wüssten ja immerhin, dass das Leben «eine einzige Hängepartie» sei, «die letztlich durch Materialermüdung zu unseren Ungunsten entschieden wird». Angesichts dieses Dilemmas zwischen permanent höherem Wollen und stetig gedämpften Dürfen und Können «heisst es rechtzeitig S.O.S. zu funken – SAVE OUR SOULS!»
Damit betritt ein potentiell dritter Spieler den Raum.
Denn «man kann es auch anders sehen», schreibt Döblin seine obigen Gedanken weiter, und nennt den Menschen «ein Doppelwesen, die Koppelung zweier Welten». Diesem «greuliche[n] Notstand der ewigen Unvollendung» könne er dann wehren, «wenn er wüsste, dass dieses natürliche Leben nicht das einzige Leben ist und dass alles, was er hier tut und unterlässt, zugleich auf einem andern Blatt steht».
Mit Berhard von Clairveaux mahnt er, man dürfe «nicht einfach dasjenige als verschlossen und unfassbar liegen lassen, was der Vernunft unerreichbar sei» (S. 122). So haben zwar «die Dinge eine Neigung, ins Nichts zu rollen. Aber es ist auch etwas da, das sie auffängt». (S. 141) – Save our Souls! Säkularer ausgedrückt: Fülle unsere Kraftspeicher!
Die Sehnsucht als Zwiespalt, der Zwiespalt als Offenheit.
Wen wundert’s, dass sich diese Lebenszusammenhänge expressis verbis in der Bibel finden? Die Spannung dort ist die zwischen der «irdischen Hütte» und der «ewigen Behausung», zwischen «seufzen» und «offenbar werden»; 2. Korinther 5. Man will nicht ohnmächtig und nackt dastehen, seiner blossen Sehnsucht nach dem diffusen Mehr ausgeliefert; viel lieber möchte man bereits die neuen Kleider der Grossen Harmonie anziehen.
Geht nicht, sagt Paulus. Zwischen hier und dort liegt ein Unterschied, ein Graben. Aber kein unüberbrückbarer. Der Heilige Geist im Glauben an den Erlöser sei diese Brücke, das Angeld auf das grosse Ganze, nachdem die Seele – verstanden als das Lebensganze – bereits gerettet ist.
Zwei Wege sind also nicht mehr möglich: aus unerfüllter Sehnsucht zur «Verfügungsmasse» abstumpfen und mit ohnehin schwindendem Tank eine Tragik des Lebens bedauern.
«Das Heimweh verbürgt nicht das Heimkommen», schrieb in den 30er Jahren der Basler Theologe Karl Hartenstein. Sondern es zeugt als ein schmerzlicher Leerraum von der Heimat.
«Der Geist ist nicht das Heimkommen», könnte ein Paulus ergänzen. Aber er belegt als kraftvolle Hoffnung diese andere Heimat und nährt aus ihr.
Auf diese Weise geschieht es, dass wir aus der «lähmenden Zuschauerhaltung aufbrechen, selbst aktiv und zu Schöpfern werden» – von unserem eigenen Jahr des Herrn 2024.
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Wort zum Sonntag vom 24. Dezember 2023: Weihnachten als Manifest der Freiheit
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
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