Das Wochenende vom 13. bis 15. September 2024 haben wir alle mit Aufregung und Vorfreude erwartet. Wir alle, das meint, alle, die mit mir im Gospelchor singen. An diesem Wochenende fand wieder der Gospel-Kirchentag statt. Alle zwei Jahre bringt er in einer anderen größeren Stadt Deutschlands an die fünftausend Sängerinnen und Sänger zusammen; in diesem Jahr in Essen.
In den Kirchen wird die Botschaft Jesu mit Begeisterung gesungen, vor den Bühnen auf den Plätzen der Stadt wird getanzt. In Aberdutzenden von Workshops bieten Dozenten den Chormitgliedern Stimmbildung an sowie Choreographie oder Bodypercussion. Kurz, es ist ein Fest der Musik, ein Fest des Glaubens.
In diesem Jahr bin ich mit gemischten Gefühlen hingefahren, war doch Essen im Frühjahr der Schauplatz einer großen Demonstration von Islamisten, die vollmundig die Errichtung eines Kalifats auf deutschem Boden gefordert hatten. Zudem haben wir in den Medien − weniger natürlich in den öffentlich-rechtlichen− doch von all den Messerattacken gehört, die zu einem guten Teil religiös motiviert waren. Was ist, so fürchtete ich, wenn sich einer oder mehrere dieser Menschen ein großes christliches Fest für ein Fanal ihres Menschenhasses aussuchen würden?
Der Weg in die Innenstadt mit den verschiedenen Bühnen bestärkte mein Unbehagen. Betonblöcke sicherten die Zufahrten, ähnlich den sprichwörtlich gewordenen Merkelpollern an Weihnachtsmärkten, damit niemand einen Anschlag mit einem größeren Fahrzeug verüben konnte. Security und Polizei waren allgegenwärtig. Unwillkürlich schaute ich mir immer wieder über die Schulter. Ein Messer ist schließlich schnell gezückt, schneller als ein Polizist hundert Meter weiter reagieren kann. Der Anschlag in Mannheim hatte dies zur Genüge bewiesen.
Vielleicht geht Ihnen das auch so. Aus Unbehagen wird schnell Furcht angesichts einer Bedrohung, die namenlos ist. Die aus der Zeit fällt. Die voller Hass steckt. Oder Mitläufertum. Die einen fühlen sich (wieder einmal) von einem Virus bedroht, ob nun Corona, Affenpocken, Vogelgrippe; die Bezeichnungen sind so überflüssig wie austauschbar. Andere vom islamistischen Terror. Wieder andere von einer politischen Kaste, die Ideologie und Gier über Menschenwürde und Schutz der Bevölkerung stellt.
Wir klagen − und das ganz zu recht − über Medienschaffende, denen ihre Posten und Karrieren wichtiger sind, als eine ausgewogene und neutrale Berichterstattung. Mittlerweile müssen wir ja schon Angst haben, nur eine Brücke zu überqueren, «Carola» lässt grüßen.
Was aber erwächst, so dachte ich mir, aus der Angst? Zuerst einmal die Klage. Meckern gehört einfach zum Handwerk. Ist ist sicher ein Klischee, daß wir Deutschen das Meckern zu einer Tugend erhoben haben. Doch jedes Klischee hat auch immer irgendwo einen wahren Kern.
Klagen ist wichtig. Die Klage benennt die Furcht, sie legt den Finger in die Wunde von Unverständnis und Unbehagen. Sie zeigt auf die Lüge, sie zeigt auf den Mangel. Und doch kann die Klage nur ein erster Schritt sein.
Und wir haben viel geklagt in den letzten Jahren. Rechts über links, Geimpft über Ungeimpft, Klimakleber über «Klimaleugner» (wie kann man denn eigentlich das Klima leugnen?). Doch wir sind bei der Klage stehengeblieben, beim Unverständnis, beim Nicht-wahr-haben-wollen, dass es nun einmal verschiedene Meinungen gibt. Aber gerade in einer Demokratie sollte das doch kein Problem darstellen.
«Gott hat uns nicht den Geist gegeben der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.»
So schreibt es Paulus in seinem zweiten Brief an Timotheus; 2. Timotheus 1,7.
Dieser Satz ging mir immer wieder im Kopf herum, als ich mich in mein Unbehagen hineinsteigerte. Ein Geist der Kraft. Ja, damit hat Gott uns beschenkt. Gerade weil es Menschen gibt, die aus irgend einem Grund lieber die Furcht in den Herzen der Menschen hervorrufen wollen. Ein Geist der Liebe. Ja, damit hat uns Gott beschenkt. Die einzige Kraft, die gegen all das Leid und all den Hass und all die Dummheit immer noch und immer wieder das Leben will.
Mit diesem Geist wollte ich mich umschauen zwischen Betonblöcken und Security. Und sah Menschen, die ausgelassen feierten. Jesus von Nazareth feierten. Den Vater im Himmel feierten. Ich sah sogar moslemische Familien, Väter, Mütter mit Kinderwagen, die vor den Bühnen standen und zumindest nicht schnell weitereilten, sondern zuschauten und zuhörten.
Ich sah und spürte einen Frieden, der von der Musik ausging. Ein Frieden, der vielleicht nicht dauerhaft war, aber der sich nicht mit der Klage zufrieden gibt. Der sich nicht mit der Aussage zufrieden gibt, dass diese Welt nun mal so ist, wie sie ist. Und der nicht im Hier und Jetzt vertröstet, sondern immer auch auf eine andere Welt verweist.
Die Unordnung, die Angst, das Chaos, das ist nicht das, was Gott will. Der Historiker Daniele Ganser sagt das sinngemäß bei den meisten seiner Vorträge so: Wenn Sie meinen, daß Ihre Welt in Unordnung geraten ist, dann nehmen Sie sich Zeit. Gehen Sie in den Wald. Schauen Sie sich ein Blatt an. Die Ordnung in den Adern, die Ordnung in jeder Zelle.
Auch Gesang folgt einer Ordnung, einer Komposition. Und Gospel folgt darüber hinaus noch der Guten Nachricht von Jesus Christus. Über die Klage hinaus. In diese Welt hinein. Zu den Menschen. Gerade weil sie nun mal sind, wie sie sind. Aber weil sie werden könnten, wie Gott sie gewollt hat.
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Das Wort zum Sonntag vom 15. September 2024: Ein Schritt zurück ist zwei Schritte vor
Edgar Rebbe ist Gemeindepfarrer in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Varel. Er hat sich während der Coronazeit mit seinen kritischen Äusserungen zu diversen Massnahmen nicht nur Freunde gemacht. In Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen ermutigt er zu offener Diskussion und respektvollem Miteinander.
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