Jeder kennt es, und keiner mag’s: das Gefühl von Reue. Anfangs ist es ein Anflug von Schuldbewusstsein, ein Gedanke, dass eben nicht nur der andere … Im Lauf der Zeit, vielleicht der Jahre oder Jahrzehnte, beißt es sich fest; das Verbergen verzehrt immer mehr Kraft, aber auch Beziehungen.
Sie ist in aller Munde, und jeder wünscht sie sich − aber vom anderen: die Reue, die Aufarbeitung, das Eingeständnis dessen, was einem angetan worden ist. Manche Menschen bringt das Warten darauf um Jahrzehnte. 80jährige Männer fangen zu weinen an, wenn sie von altem Unrecht erzählen.
Das müsste dann von der anderen Seite her bedeuten: Zu Fehlern stehen, persönlich vor einem anderen eingestehen, dass man Schaden angerichtet hat, das müsste wie ein Lebenselexier wirken. Der eine muss nicht länger unterdrücken, was ohnehin ans Licht will, und der andere, der Empfangende, findet Ruhe über seiner Not.
Warum also sind Reue und Buße so wenig populär? Ich vermute, jedes Kapitel eines ellenlangen Aufsatzes würde beim gleichen Thema landen: dem Selbstwert und wie wir ihn bestimmen. In Managementkursen werden Fragebögen ausgeteilt, auf denen man seine Stärken und seine Schwächen angeben soll. Der Clou ist dann oft, dass der Partner dieselbe Liste zum Bearbeiten bekommt. Man wird also persönlich gegengelesen.
Wie schmeichelhaft sind die Ergebnisse? Wenn sie ehrlich sind, werden sie jedenfalls das Miteinander vertiefen. Und damit sind wir an dem entscheidenden Punkt, nämlich bei der Frage, ob ich mir das leiste, leisten kann, leisten will, anders dazustehen als ich das gerne hätte.
Das ist auch eine höchst politische Frage. Im Hessischen Landtag hatte vergangenen Donnerstag die AfD-Frakion gefordert, die anderen Teile des Parlaments sollten sich für die Übergriffe der Corona-Zeit entschuldigen; die RKI-Dokumente hätten nun ja den ganzen Betrug offenkundig gemacht. Das Ego eines CDU-Kollegen ließ ein solches Ansinnen aber nicht zu. Vielmehr wetterte er gegen die Antragsteller und beharrte darauf, er und seinesgleichen hätten zum jeweiligen Zeitpunkt eigentlich alles richtig gemacht.
Einsicht und auch Aufarbeitung lassen sich nicht einfordern. Aber man kann Mut machen, sie zuzulassen.
In ihrem Manova-Artikel umschreibt die Autorin Kerstin Chavent Reue als «das Bedauern oder die Zerknirschung über etwas Getanes oder Unterlassenes», einen Schmerz, der mit «Beschämung» und dem «Wunsch nach Wiedergutmachung» einhergehe. − Welche Seite wird siegen? Der Selbstschutz wegen der Beschämung oder die Freiheit dank dem Versuch der Wiedergutmachung?
In wessen Augen machen wir uns klein, wenn wir Reue zeigen und Fehler zugeben? Wohl am ehesten in den Augen eines überdimensionierten Ego. Chavent sagt, wir würden uns mit einem solchen Schritt sogar groß machen, weil wir uns damit «weich und offen füreinander» zeigen. Aber wer traut sich das schon?
Ich sehe drei Hauptgründe, die einem das leichter machen.
- Da ist zum einen der Druck, der ein Eingeständnis herauspressen mag. Das kann der innere Druck sein, weil der «Marterpfahl» und «Kerker» des Gewissens übermächtig geworden ist, wie es der Rechtsanwalt Chris Moser in einem seiner Gedichte nennt, oder auch der äußere beispielsweise durch eine Strafuntersuchung oder eine nicht mehr zu ignorierende Öffentlichkeit. Ein Beispiel hierfür ist mir das vielbeachtete Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück, das sowohl die Autorität des RKI infrage stellt als auch das Bundesverfassungsgericht einen Spiegel seiner eigenen Polithörigkeit vorhält.
- Ein weiterer Grund fürs gute Nachgeben ist eine Achtung vor dem Betrogenen. Das gilt im Zwischenmenschlichen ebenso wie in der Gesellschaft als Ganzer. Ein Politiker, Polizist oder Jurist als Diener des Volkes bringt mehr Mut zur Ehrlichkeit auf als jemand, der sich als Repräsentant seiner Institution versteht, die es anhand der eigenen Person zu verteidigen gelte. So mancher Amtsdienst und Dienstgelöbnis würden Ersteres nahelegen.
- Der dritte Weg, auf dem jemand sein Ego leichter fahren lässt und auf von ihm Überfahrene zugeht, ist die Suche nach Frieden. Es ist weder nötig noch ratsam, bis zum Schluss zu warten, bis «wir dem ehrlichen Rückblick auf das eigene Leben nicht mehr ausweichen können», schreibt Chavent. Frieden durch Reue ist eine Tat des Lebens fürs Leben. Und dann auch fürs Sterben.
Der Stolz einer Profession darf nie die Haltung des Dienstes verderben, sie niemals überlagern. Denn das Gegenteil von Stolz ist die Demut in ihrem eigentlichen Sinne: als De-Mut, und das bedeutet nach den Grundwörtern als eine «Dienst-Gesinnung».
Wen wundert es, dass sich diese Zusammenhänge in einem einzigen biblischen Wort wiederfinden?
«Denn die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Seligkeit eine Umkehr, die niemanden reut;
die Traurigkeit der Welt aber wirkt den Tod.»
2. Korinther 7,10
Ich bin versucht, diesen Vers nun näher zu erläutern. Aber das ist nicht nötig. Man lasse ihn selber wirken.
************
Wort zum Sonntag vom 8. September 2024: Die Suche nach dem Geist
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
Kommentare