Bis weit nach Mitternacht waren wir zusammengesessen und hatten uns sprichwörtlich über Gott und die Welt unterhalten: im Wohnzimmer des unsterblichen Karl Hilz im April 2021, als rundherum das Hochamt eines «neuartigen Virus» zelebriert wurde.
Wenn er am Mikrofon stünde, da rede er immer ohne vorbereitetem Konzept. Das komme dann direkt von oben; da sei er ganz offen. Nach meiner Beobachtung, antwortete ich ihm, sei rund ein Drittel der Menschen bei den derzeitigen Demos Verprellte aus den Kirchen oder bewusste Christen. − «Wenn nicht mehr», erwiderte Karl spontan.
Unser Gespräch zog sich bis gegen 2 Uhr morgens hin. Wir schlossen es ab mit einem gemeinsamen Segen und einem guten Schnaps.
Das Augenmerk auf die ausgewanderten Gläubigen ist geblieben. Anders gesagt: Wie und wo findet heute das statt, was man vor nicht allzu langer Zeit noch seiner Kirche oder Gemeinde zutrauen wollte? Gemeinschaft, ehrlicher Austausch, geteilte Nöte, tastende Hoffnung? Mehrheitlich hatten die Kirchenleitungen sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland stillgehalten, als ihr freies Wort gefragt war, und damit ihren Auftrag vielerorts verraten.
«Dieses Schweigen war natürlich auch Politik auf der Kanzel», schreibt der ehemalige Berner Münsterpfarrer Walter Lüthi.
«Die Kirche treibt überhaupt immer Politik, entweder durch ihr Schweigen oder durch ihr Wort.»
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Wenn sie jedoch beides in falscher Weise wahrnimmt, werde sie «weithin eine Gesellschaft von etwas durchschnittlichen und harmlosen, weil vorsichtigen Leuten» (Seiten 84 und 89 seines Reiseberichts «Deutschland zwischen gestern und morgen»).
Walter Lüthi war im Sommer 1947 zusammen mit Professor Oskar Farner durch das kriegsversehrte Deutschland gereist. Sie sollten für die Schweizer Kirchen abklären, wie am besten geholfen werden könnte.
«Wenn sie wollte», die Kirche, «dann müßte ihr das Wort gegeben sein. Und da liegt der Mangel.»
«Wenn sie ängstlich fragt: ‹Wie wirkt es?›, dann hat sie schon aufgehört, Kirche zu sein.» (Seiten 80 und 82)
Derartige Befunde sind mir in den letzten Tagen mehrfach zugefallen. Ray Bradbury zum Beispiel lässt in seinem berühmten Roman «Fahrenheit 451» einen Protagonisten sagen:
«Ich frage mich oft, ob Gott seinen eigenen Sohn wiedererkennen würde in der heutigen Verkleidung. Er ist jetzt ein richtiger Zuckerjunge, lauter Süßholz und Sacharin, wenn er nicht gerade verschleierte Andeutungen macht auf gewisse Produkte, die jeder Gläubige zu seinem Seelenheil unbedingt braucht.» (Seite 96, Hervorhebung im Original).
Wir wissen heute, dass diese Produkte nicht nur allgemein materieller Natur sein müssen. Es gibt auch die entsprechenden chemischen wie ideologischen Varianten. Ihre Wirkung ist übereinstimmend narkotisch. Der Zeitgeist kommt dann nicht nur ungeschoren davon; er wird sogar noch sanktioniert, indem sich «die Kirche (…) mit der Ausrede, sie verstehe das nicht, in rücksichtsvolles Schweigen» hüllt (Lüthi, Seite 84).
Indikator ist die jeweils «zeitgemäße» Definition von Nächstenliebe. Man spiele einmal durch, was dafür in den letzten Jahren alles hatte herhalten müssen. «Sie kennt Gott und dient sich selbst, deshalb ist sie so arm», schrieb der Schweizer Pfarrer Hermann Kutter vor hundert Jahren («Das Unmittelbare», 1921, Seite 338).
Ich habe große Achtung vor Kolleginnen und Kollegen, die sich innerhalb dieses Systems ihr freies Denken und Reden bewahrt haben und andere dazu anstiften, die sich also beteiligen an dem «geheimnisvollen Wettlauf von Zeitgeist und Heiligem Geist», dem Grundzug von Christsein und Geschichte. Und doch wird «eine dritte Form, die hörende Kirche, (…) die älteren Formen der Anbetung entlasten müssen» (Eugen Rosenstock-Huessy).
Hier schließt sich mir der Kreis zu der Begegnung mit dem tapferen Münchner Ex-Polizisten. Hinausgespült aus verfasster Kirchlichkeit und Gemeindedenken, hingespült an den Strand einer neuen Zeit, treten im ganzen Land neue Gemeinschaften zusammen. Die Erschütterungen haben sie zu fundamentalen Fragen geführt. «Der Mensch will jetzt zweifeln, denn nun will er gewiß sein», schrieb wiederum Hermann Kutter (Seite 340, Hervorhebung im Original).
In einer ersten Phase hat sich das überwiegend im gemeinsamen Protest und in gewissen Abstimmungen mit den Füßen geäußert. In einer zweiten, die mir seit etwa zwei Jahren angebrochen zu sein scheint, suchen immer mehr Menschen die Antworten in einem persönlichen Glauben. Nicht ohne Grund werden in den Vereinigten Staaten nun sehr viele Bibeln an Erstleser verkauft, beispielsweise.
Walter Lüthi wurde auf seiner Reise durch eine Stadt geführt, die «zu 85 Prozent zerbombt» war. «Und fragst du den Geistlichen, wo denn nun seine Leute wohnen, dann sagt er dir, du müßtest einmal des Nachts durch die Trümmer wandern, dann würdest du staunen darüber, wo überall Lichter aus der Erde hervorleuchteten und also Menschen wohnten.» (Seite 51)
So werde denn auch «die Gestalt der zukünftigen Kirche verborgener sein», zitiert Lüthi an anderer Stelle einen deutschen Gesprächspartner.
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Wort zum Sonntag vom 8. Dezember 2024: Empfangen zum Weitergeben
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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