Eigentlich war es eine ganz normale Schulfeier. Die Eltern der Primar- und Sekundarschüler waren eingeladen zu verschiedenen Darbietungen, erweitert mit Einlagen von zwei Dorfvereinen. Das genaue Programm hatte ich mir nicht weiter angeschaut, sondern den Abend auf mich zukommen lassen.
Ein einzelner Auftritt jedoch hatte sich mir dann abgehoben von allem anderen: das Klarinetten-Solo. Ich staunte nicht schlecht, wer da die Bühne betrat, nämlich die Leiterin von der Dorfkäserei. Selbstsicher und virtuos spielte sie ihr Instrument vor dem halben Dorf. Wer hätte damit gerechnet? Ich nicht.
Da war jemand überdeutlich aus seiner Rolle herausgetreten und hat sich mit Gaben und Interessen gezeigt, die in einen ganz anderen Bereich weisen. Die übliche Funktion war abgelegt und der ganze Mensch ins Licht, gar ins Rampenlicht getreten.
Ähnlich erging es mir einige Jahre später beim Konzert des Stadtorchesters. In der Besetzungsliste tauchte ein ortsbekannter Mann auf: der Bezirksrichter. Hier ging für einmal nicht gegeneinander, sondern Zusammenspiel war gefragt.
Die Beispiele ließen sich verlängern und kann sicherlich jeder Leser für sich verlängern; Beispiele von Menschen, die ganz andere Anteile ihrer selbst leben und dort und damit vielleicht erst richtig leben. Gut möglich, dass der Mensch erst «dort auf seiner Höhe» ist, «wo er für seine niedrigeren Daseinsformen Herablassung empfindet» (Eugen Rosenstock-Huessy).
Wir sind mehr als das, was üblicherweise von uns verlangt oder auch nur gesehen wird; wir dürfen mehr sein, und müssen das sogar in irgendeiner Form zeigen und leben können, zeitweise oder stetig. Wer in seiner Rolle vermeintlich aufgeht, der zergeht als Persönlichkeit. Wer permanent einem Druck standhalten soll, der wird selber hart. Er muss seine weiche und lebendige Seite wiederfinden, sonst zerdrückt es ihn bald einmal.
Salopper ausgedrückt: Wir müssen aus der Rolle fallen, damit wir aus der Falle rollen.
Mir sind diese Zusammenhänge in letzter Zeit wieder wichtig geworden. Müde und beklommen leben immer mehr Menschen vor sich hin, ohne dass sie an den Umständen viel ändern könnten. Für irgendein Mehr fehlen Kraft und Zeit und Geld. Ändern wir doch probeweise die Blickrichtung und fragen: Wo hatte einmal das eigene Herz geschlagen oder möchte es gerne schlagen? Auf welchem vielleicht ganz anderen Gebiet und ohne Rück-Sicht auf bisherige Rollen und Funktionen? Das weist in jene Höhe, die souverän macht.
Ein bekanntes Lied im Advent beginnt mit der Frage «Wie soll ich dich empfangen, und wie begegn’ ich dir?» Nämlich jenem Auferstandenen, der gesagt hat, er werde zur bestimmten Zeit wiederkommen; jenem Einen, dem ich ohnehin über kurz oder lang begegnen werde − wie begegne ich ihm?
Am ehesten mit meiner Bedürftigkeit. Das ist vielleicht genau jene Angst, bisherige Rollen zwischendurch abzustreifen und etwas befreiend Ungewohntes anzugehen. Der Schweizer Pfarrer Hermann Kutter meinte dazu vor über hundert Jahren:
«An Gott gebunden sein, heißt den Mut haben, das eigene menschliche Sein endlich einmal mit Lust und Kraft zu ergreifen.» (in: Der Unmittelbare, Seiten 383f)
Ja, es brauchte anfangs sicherlich Mut, von der Käserei-Theke auf die Bühne der Aula zu treten oder vom Gerichts- in den Konzertsaal. Woher kommt der? Wohl doch von dem Wissen, ich bin und bleibe gehalten, was immer andere meinen − also darf ich auch sein!
«Was sollen wir nun dazu sagen? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?»
Römer 8,31
Bestimmt der eine und andere Naserümpfer. Mein Gott jedenfalls nicht. Das erfrischte Herz liefert mir dafür die erste Antwort und Bestätigung, das anerkennende Staunen anderer die zweite.
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Wort zum Sonntag vom 24. November 2024: Kirche spielen
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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