Sehr vielfältig waren die Themen der heutigen Kundgebung im schwäbischen Göppingen. Gemeinsam, wie es auf dem Plakat hieß, trat man auf für Frieden und Meinungsfreiheit, für den Erhalt des Bargeldes und überhaupt für die Freiheit. Die bisherige Gruppe von «Neustart Göppingen» hatte man erweitert um das Team von «Baden-Württemberg steht auf».
Vor einem Jahr war ich schon einmal als Redner in dieser Stadt. Diesmal lautete mein Motto «von oben geerdet − ein Pfarrer nimmt Stellung». Stellung zu allen diesen Bereichen? Nein, es ging mir darum, ein Wort zu Kirche und Protest zu sagen, zum Verrat an Glauben und zum Selberglauben. Wie will man «bei Trost» bleiben, wenn soviel Unfrieden und Gefahr verbreitet wird?
Nach einigen Reden am Marktplatz hielt der Zug auf dem großen Platz vor dem Bahnhof wieder an. Gleich am Anfang von meinem Teil fragte ich die anwesenden rund hundert Leute nach der eigentlichen Aufgabe von einem Pfarrer und von Kirche. Dass er für einen da sei, wenn man ihn braucht, oder dass Kirche neutral sein solle in politischen Dingen − oder eben gerade nicht neutral in den Machtfragen; Jesus sei es ja auch nicht gewesen.
Gemeint war beide Male etwas Ähnliches: keine machtpolitische Parteilichkeit, sondern eine Hinwendung zu den Menschen. «Gut, aber wo war diese Stimme zu Corona-Zeiten, wo ist sie zu Zeiten von Kriegshetze?» fragte ich. Der Eindruck eines großflächigen Versagens sitzt nämlich tief, wie ich den Reaktionen auf meine Beispiele entnahm: einsam sterbende Alte in den Krankenhäusern, mit Atemmasken misshandelte Kinder in den Schulen, zur Nächstenliebe verklärte Spritzen und Waffenlieferungen. Noch keine Kirchenleitung hat meines Wissens dieses große geschichtliche Versagen beim Namen benannt.
Im Gegenteil: Durch ihre Verbandelung mit dem Staat sind unsere Kirchen in weiten Teilen zu einem Sprachrohr für die Mächtigen verkommen. So werden reihum die Bischöfe nicht nur vom deutschen Staat bezahlt; sie leisten sogar weiterhin ihren Amtseid auf den jeweiligen Ministerpräsidenten − nach dem Wortlaut aus dem Reichskonkordat vom Juli 1933! «Ich schwöre und verspreche, die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu achten und von meinem Klerus achten zu lassen», heißt es dort zum Beispiel. Wieviel Widerrede kann da noch aufkommen? Das Geld für deren Einkommen bezeichnete Markus Söder unlängst als «gut angelegt».
Kurze Zusammenfassung auf dem Bahnhofsplatz: Wir erwarten also von Kirchenleuten, dass sie eine eigene Stimme finden und die auch erheben. Dafür müssten sie dann erstens informiert sein, zweitens die Dinge recht bewerten können und sich drittens auf eine gute Weise öffentlich und dem Evangelium entsprechend einsetzen. Gut. − Und wie halten wir es da selber? Das Evangelium ist nicht explizit für Kirchenleute gemeint, sondern für jeden von uns hier. Kommen wir diesen drei Punkten denn selber nach?
Über die Themen auf dem Demo-Plakat sind die meisten hier soweit orientiert, da muss ich nicht viel sagen. Die Dinge bewerten? Wir ärgern uns drüber, haben davor Angst, sehen Zusammenhänge, die «sich entwickeln». Setzen wir uns aber auch dafür ein, dass es anders wird? Einzelne durchaus. Aber das braucht Mut, das braucht Kraft und Durchhaltevermögen. Womit wir wieder beim Thema Glauben wären. Jesus, der sich Mächtigen widersetzt und Arme gestärkt hat, gibt einem Perspektive. Es ist die Gegenwart des Auferstandenen, die Mut und Ideen bringt, um selber auch da und dort durchzudringen, und sei es nur zeichenhaft. Aber frei.
Auf diesem Weg versagen wir auch; so wie ich selber, als ich es an einer Demo vermieden hatte, von einer Fernsehkamera mit einem äußerlich «klassisch Rechten» gemeinsam abgebildet zu werden. Die Rücksichtnahme auf Verleumder war mir da wichtiger gewesen als die Begegnung mit diesem Menschen. Das bedauere ich noch heute.
Die Frage bleibt: Wenn wir von Kirche enttäuscht sind, mit noch soviel Recht enttäuscht sind − was bedeutet das für einen selber? Sind dann auch Glauben und Christentum passé oder schauen wir erst recht genauer hin, was eigentlich damit gemeint wäre und was das mit einem selber zu tun haben könnte? Manches ist wohl tatsächlich so fremd geworden, dass man schon wieder drauf neugierig sein darf.
Lassen Sie sich das eigene Fragen und Suchen nicht verderben. Jeder dockt an einer anderen Stelle des Wortes an; lesen Sie einfach ’mal aufs Geratewohl, einfach so. Ich kann selber bezeugen: Man weiß sich angeredet und bekommt neuen Atem für den immer neuen nächsten Schritt ‒ im Widerstand für eine bessere Welt.
«Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in Christus Jesus bewahren.» (Philipper 4, Vers 7)
Gott segne euch.