Die einen brauchen dafür eine Studie, den andern ist es ohnehin klar − und Dritte interessiert es ganz einfach nicht: dass immer weniger Kinder geboren werden und zugleich immer mehr Menschen sterben.
«Sei getreu bis in den Tod», steht auf so manchem Kriegerdenkmal. Ist dieses Bibelwort hier schon fehl am Platz, so kann es angesichts der eben angedeuteten Ignoranz nur mit großem Zynismus angeführt werden, einer Ignoranz, die sich als Treue gegenüber staatlicher Propaganda kaschiert. Wer sie fordert, fungiert als Totengräber der neuen Art.
In einer Kirchgemeinde in Norddeutschland zum Beispiel wurde der langjährige Durchschnitt an Beerdigungen bereits Ende April überschritten. Die Kollegen wundern sich über die vielen Einsätze, die sie seit geraumer Zeit zu leisten haben. Einige von ihnen wundern sich allerdings schon lange nicht mehr, doch sie können kaum Ross und − Schwarzen − Reiter beim Namen nennen. Wie denn auch?
Mir selber trat das wieder vor Augen beim Trauer-Gottesdienst für einen langjährigen guten Bekannten. Die Kirche war übervoll; man musste improvisieren mit einem zweiten Raum, in den die Feier übertragen wurde. Er hatte «nicht das Alter fürs Sterben», wie man so sagt. Vor einigen Wochen hatte ich ihn noch in der Gastwirtschaft getroffen, «bei bester Gesundheit» − wie man so sagt.
Oder wie man jedenfalls meint. Denn bei den Ansprachen wurde klar, dass er sich seit längerem angeschlagen gefühlt hatte. Besuche bei mehreren Ärzten brachten kein Ergebnis. Man schickte ihn wieder heim mit den üblichen Beschwichtigungen. Von einem Tag auf den anderen dann die Diagnose: Krebs in fortgeschrittenem Stadium.
Einige Wochen darauf war nun die Beerdigung. Dass keiner von uns sein Leben in der Hand habe und dass «Gott, der Schöpfer, der Herr über Leben und Tod» sei, auch wenn dieser unerwartete und plötzliche Tod uns alle «fassungslos» mache, hat der Pfarrer erzählt.
Nun ja: Man werfe ihm seine Worte nicht vor. Aber man möchte sie doch ergänzen! Dahingehend, dass sich manchmal durchaus auch Menschen als Herren über Leben und Tod aufspielen; dass staatlich erzwungene Spritzen noch viel fassungsloser machen sollten; dass der Glaube an eine wohlmeinende Obrigkeit zutiefst erschüttert statt mit einen Kirchenglauben verkleistert werden sollte.
Von einigen wenigen Teilnehmern des Gottesdienstes wusste ich, dass sie jenem Treiben kritisch bis ablehnend gegenübergestanden waren. Aber jetzt, bei den Begegnungen nach der Feier, war nicht die Zeit, sich darüber auszulassen.
Wann aber ist die Zeit dafür? Wem gegenüber erklärt man wann und mit welchen Worten das eigentlich Offenkundige? «Das hat ja alles nicht mit der Bratwurst zu tun, die man .... − Aber lassen wir das, nicht wahr? Das ist ja alles ein ‹Schicksal›, das uns da ereilt», meinte neulich ein aufgeweckter Kollege mit jener Ironie, die man mitunter gegen die Lähmung des eigenen Geistes auffährt.
Und jenseits von Zynismus und Ironie? Die Angehörigen kann man in dieser unmittelbare Phase nicht aufklären wollen. Das wäre eine zutiefst unempfindsame Rationalisierung des schlimmen Geschehens, bei dem nur der Eindruck von «selber schuld» hängen bliebe. Ob es ihnen in einer späteren Phase hilft, das Ganze breiter einzuordnen? Einzelnen vielleicht, kommt drauf an.
Den Pfarrer nachträglich auf ein paar Zusammenhänge hinweisen? Wer partout nicht hören will − und als solche schätze ich die große Mehrheit der sogenannten Kollegen und ihrer -innen ein −, der verhärtet sich nach einem solchen Anlauf noch mehr. Hatten sie sich währenddem mit «dem Staat» übersolidarisch gezeigt, so stellen sie diese ihre Tugend auch jetzt nicht infrage; wohl aber den scheinbar wenig tugendhaften Überbringer an sich tugendsam geweiteter Wahrnehmung.
«Ein armer, aber weiser junger Mann ist besser als ein alter törichter König, der sich nicht mehr warnen [ermahnen] lässt.» Prediger 4,13
Blieben die übrigen Teilnehmer. Soll, kann, darf man im nachhinein auf Bekannte eines Verstorbenen zugehen und sie aufklären, sie vielleicht auch warnen vor einer Gefahr, die realistischerweise auch vielen von ihnen droht? Man möchte meinen und hoffen, dass jener Tod ihres Freundes oder Verwandten sie hat sensibler werden lassen für das Leben, gerade auch das gefährdete eigene.
Bei den meisten wird das Gegenteil der Fall sein. Sie krallen die Krücke, die man ihnen angeboten hatte, nur umso fester. Nichts hat mit nichts zu tun.
«Menschensohn, du wohnst inmitten eines widerspenstigen Hauses, das Augen hat zum Sehen und doch nicht sieht, Ohren zum Hören und doch nicht hört; denn sie sind ein widerspenstiges Haus.» Hesekiel 12,2
Auf gut deutsch also: Hopfen und Malz verloren? Sind so viele Menschen tatsächlich «getreu bis in den Tod», blind getreu? Die Frage dahinter ist meines Erachtens überraschend einfach, und die Antwort wäre es auch: Vor welchem Hintergrund, mit welchem Fundament begegnen wir den letzten Fragen, den Fragen nach und auf Leben und Tod? Können wir ihnen standhalten, uns ihnen stellen, oder wird unser Korsett umso steifer, je mehr der Boden zu wanken beginnt?
Wie ist es bestellt um unseren Freimut für neue Sichtweisen? Daran zeigt sich nämlich, ob ich mich festklammern muss an dem, was eine Mehrheit mich zu meinen angewiesen hat, oder ob ich mir neue Horizonte erschließen lasse. Der Tod eines nahestehenden Menschen, gerade auch sein provozierter Tod, stellt einem selber eben diese Fragen des Lebens.
Von diesen Fundamenten hatte es Jesus in seinem bekannten Gleichnis von den beiden Baumeistern, dem klugen und dem törichten. Schenke Gott, dass wir uns zu Ersteren zählen dürfen.
«Ein jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut, den will ich mit einem klugen Mann vergleichen, der sein Haus auf den Felsen baute. Als nun der Platzregen fiel und die Wasserströme kamen und die Winde stürmten und an dieses Haus stießen, fiel es nicht; denn es war auf den Felsen gegründet.
Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, wird einem törichten Mann gleich sein, der sein Haus auf den Sand baute. Als nun der Platzregen fiel und die Wasserströme kamen und die Winde stürmten und an dieses Haus stießen, da stürzte es ein, und sein Einsturz war gewaltig.» Matthäus 7,24-29
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Wort zum Sonntag vom 19. Mai 2024: Wunsch und Wirklichkeiten]
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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