Manchen Liedern aus dem altehrwürdigen Kirchengesangbuch spürt man ihre Jahrhunderte nun wirklich nicht ab. Es ist nicht einmal so, dass sie zeitlos wirken würden. Im Gegenteil: Sie passen recht genau in die Zeit, in die Gegenwart. Wer würde schon meinen, dass die folgenden Zeilen von Philipp Spitta schon 200 Jahre hinter sich haben?
«Es gilt ein frei’ Geständnis
in dieser unsrer Zeit,
ein offenes Bekenntnis
bei allem Widerstreit;
trotz aller Feinde Toben,
trotz allem Heidentum
zu preisen und zu loben
das Evangelium.»
Sie waren mir in den vergangenen Tagen wieder in den Sinn gekommen, als ich vom neuen deutschen «Verfassungsschutzbericht» gehört und gelesen hatte. Denn der zeigt vor allem eines: Es ist nicht gut bestellt in deutschen Landen um das «frei’ Geständnis», um die Meinungsfreiheit.
Der Colt sitzt locker beim «Verfassungsschutz». Gut möglich, dass diese Anführungszeichen schon reichen und ich damit in jenen «Phänomenbereich» rutsche, der «das Vertrauen ... in staatliche Institutionen sowie in Wissenschaft und Medien» untergräbt. Denn wer das tut, der gehört zu den Menschen mit «Gefährdungspotenzial» – alles Zitate aus besagtem Bericht.
Treffend kommentiert haben dieses Dokument staatlicher Selbst-Delegitimierung zum Beispiel der frühere BILD-Chefredaktor Julian Reichelt und kein Geringerer als Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Präsident des Verfassungsschutzes.
Jener Bericht erschien am 7. Juni 2022. Schon vier Wochen vorher aber argumentierte das Amtsgericht Lüneburg genau auf dieser Linie. Am 5. Mai hatte es der kritischen Journalistin Alina Lipp mit einem «Beschluss» den Zugriff auf ihr Konto verwehrt. Die Begründung: Die Beschuldigte würde den «Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine» gutheißen und – zusammengefasst – mit ihren Informationen das Wohlergehen der Gesellschaft in Deutschland gefährden.
Alina Lipp berichtet seit vielen Wochen aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine und vermittelt zumindest andere Bilder als die offenbar staatstragenden. Sie hat das vollständige Schreiben auf ihrem Telegram-Kanal veröffentlicht – Die VS-Vorgaben werden also umgesetzt. Wo bleibt die Bewegung «Wir sind Alina!»?
Hier geht es ums Ganze. Spiegelbildlich gelesen, offenbaren die Vorwürfe ihr gegenüber nämlich folgendes Menschen- und Staatsbild:
- Über geopolitische Entwicklungen herrsche die ungeteilte Einschätzung der Regierung.
- Uneinigkeit innerhalb einer Gesellschaft ist vom Übel.
- Weitgehend identische Ansichten aller tragen zum Frieden untereinander bei.
- Eine Meinung bildet man sich zusammen mit der Mehrheit.
- Jede Veröffentlichung der Medien trägt per se das Siegel der Wahrhaftigkeit.
- Eine verlässliche Rechtsprechung ist gewährleistet.
- Die Demokratie läuft gut.
- Und: Wer das infragestellt, landet auf unseren Radarschirmen und mehr.
Dass man das auch alles ganz anders sehen kann, das geht zum Beispiel aus einem alten deutschen Dokument von Ende der 40er Jahren hervor. Dort stehen Sätze wie «Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus» und «Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. (...) Eine Zensur findet nicht statt.»
Wirklich, «es gilt ein frei’ Geständnis in dieser unsrer Zeit, ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit». Wofür und warum? Um «trotz aller Feinde Toben, trotz allem Heidentum zu preisen und zu loben das Evangelium». Denn dieses Bekennen und Loben wird zurückwirken in die ganze Gesellschaft und sie – wieder – freier machen.
Aber wenn das staatlich beschränkt und verhindert werden soll? Wenn sie einen tatsächlich deswegen «den Gerichten überantworten»? Dann fände die freie Rede nicht einmal dort ihr Ende; vielmehr:
«Sorgt nicht, wie oder womit ihr euch verantworten oder was ihr sagen sollt; denn der Heilige Geist wird euch in derselben Stunde lehren, was ihr sagen sollt.» Lukas 12, Verse 11 und 12
Diese vorgelebte christliche Freiheit hat durch die Jahrhunderte die Gesellschaften befruchtet und verändert. Sie kommt heute in weltlichen Zeugen wieder zurück. Alina Lipp, Julian Reichelt und Hans-Georg Maaßen sind Vorbilder dieser Freiheit des ursprünglichen Geistes.
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Wort zum Sonntag vom 12. Juni 2022: Dranbleiben, laut und deutlich!
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft auch an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
Telegram-Kanal: @StimmeundWort
Website: www.stimme-und-wort.ch
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