Teil 1 ist hier zu lesen
Etwas mehr über die soziale Lage im heute kapitalistischen Russland zu erfahren war eines der Anliegen der deutschen Gruppe. Dafür war im Vorfeld auch ein Treffen mit Vertretern der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) verabredet worden, das am 7. Mai zustande kam.
Die Büros der Petersburger KPRF-Organisation liegen in einem unscheinbaren Hinterhofgebäude, etwas abseits des Zentrums der Stadt. An den Wänden im Treppenhaus und den Fluren hängen zahlreiche Lenin-Bilder, in den Räumen stehen Büsten des Revolutionärs. Dort wurden die Deutschen von Roman Kononenko, Fraktionschef der KPRF im Petersburger Stadtsowjet, und anderen Parteifunktionären empfangen.
Die Partei, die aus der einst führenden KPdSU hervorging, ist den Angaben nach die größte Oppositionspartei in Russland und zugleich wie ihre Vorgängerpartei staatsorientiert. Das zeigte sich an den Aussagen ihrer Vertreter, welche die Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin und der Regierung zwar deutlich kritisieren, insbesondere bei Fragen der sozialen Lage und der demokratischen Rechte.
Die Deutschen und die KPRF-Vertreter bei ihrem Treffen (Foto: Tilo Gräser)
Aber bei außenpolitischen Themen unterstützen sie den offiziellen Kurs, auch in Bezug auf die Ukraine, wie Kononenko betonte, der die Rolle Russlands in der Welt als «antiimperialistisch» bezeichnete. Das Land werde durch die westlichen Versuche, es zu ruinieren und zu spalten, bedroht, weshalb die KPRF den Kurs des Kreml in diesen Fragen unterstütze. Das bestätigten auch die anderen Parteifunktionäre, die sich mit der deutschen Gruppe trafen.
Aus dieser kam unter anderem die Frage, wer den Krieg in der Ukraine bezahlt. Dazu erklärte Kononenko, dass der vom Westen provozierte Stellvertreterkrieg Folgen für die gesamte Gesellschaft in Russland wie für die einzelnen Bürger habe. Aber die Lasten würden «nicht auf die Schultern der einfachen Menschen verlagert», sagte er. Es habe keinen Rückgang bei den Sozialausgaben und der sozialen Garantieleistungen gegeben, aber die Preise seien gestiegen, insbesondere für Importwaren.
Die Unternehmen und die Oligarchen würden vom Staat gezwungen, die Kosten für die Militärausgaben mitzutragen, unter anderem über Steuererhöhungen. Zugleich gehe die Schere zwischen Arm und Reich in Russland weiter auseinander, ergänzte Wassili Kriwanoz vom KPRF-Stadt-Komitee und verwies auf die seit 2022 gestiegene Zahl der russischen Milliardäre.
Swetlana Rumjanzewa von der KPRF in St. Petersburg bat die Deutschen darum, in ihrer Heimat zu berichten, dass die Russen wie ihr Großvater im Zweiten Weltkrieg nicht gegen die Deutschen, sondern gegen die Faschisten gekämpft haben. Und so würden sie heute nicht gegen die Ukrainer kämpfen, sondern gegen die Faschisten in dem Land.
Die Frage einer deutschen Reiseteilnehmerin, wer denn im Krieg in der Ukraine sterbe, ließen die Parteivertreter unbeantwortet. Zuvor hatten sie aber darauf hingewiesen, dass viele KPRF-Mitglieder an der Front kämpften.
Dort sterben Kommunisten, die zuvor politisch verfolgt wurden, während die an der Macht sich bereichern würden, erinnerte eine Frau mit einem handgeschriebenen Plakat Tage später auf dem Newski-Prospekt. Sie nannte Namen von jungen Marxisten und Kommunisten, die entweder kämpften oder schon gefallen waren – und trug außerdem eine sowjetische Fahne. Und hatte als Fazit auf ihr Plakat geschrieben: «Das ist Kapitalismus, Kind!»
Protest gegen die politische Verfolgung russischer Kommunisten (Foto: Tilo Gräser)
Das war eine der wenigen deutlichen Spuren des Krieges auf dem Gebiet der Ukraine, die die Deutschen während ihres Aufenthaltes sahen. Der in Russland lebende deutsche Journalist Ulrich Heyden hatte das unlängst in einem Interview mit dem Magazin Hintergrund so beschrieben: «Der Krieg ist da, und doch nicht da.»
In der Stadt an der Newa zeigte er sich unter anderem durch Anzeigen, die für den Dienst als Vertragssoldat in der Armee warben, mit Durchsagen im Bus für Männer, die sich bei der Armee bewerben wollen, oder auch mit Uniformierten, zum Teil aus afrikanischen Ländern, mit einem Totenkopf am Uniformärmel. Auf einem Bahnsteig des Moskauer Bahnhofs von St. Petersburg umarmte am 8. Mai ein Soldat mit dem Z am Arm seine Frau zum Abschied und küsste sie, bevor er in den Doppelstock-Zug in Richtung Süden einstieg, wie vor ihm ein anderer in Kampfuniform mit dem Totenkopf am Arm.
Der Krieg, zu dem die beiden Männer und sicher andere mit dem langen, doppelstöckigen Zug zurückkehrten, war nur eines der Themen bei dem Treffen der Deutschen am selben Tag mit Studenten für internationale Beziehungen von der Staatlichen Universität in St. Petersburg, die die deutsche Sprache lernen. Aber über seine Folgen wurde immer wieder gesprochen, so als Dennis aus Nischni Tagil wissen wollte, wie sich denn die Russophobie in Deutschland zeige, von der er gehört habe.
Die Frage aus der Reisegruppe, was die jungen Russen denn über Deutschland erfahren und wissen, wurde sehr höflich mit dem Interesse und der Liebe für die deutsche Sprache und Kultur beantwortet. Sie berichteten aber auch davon, dass Chinesisch und Arabisch inzwischen die Sprachfavoriten unter ihren Kommilitonen sind. Für diejenigen, die Deutsch lernen, sei die Perspektive nicht mehr klar, was sie später damit anfangen können, sagte Angelina, eine der Studentinnen.
Beim Treffen mit den Studenten (Foto: Éva Péli)
Edmund Peltzer, ein ehemaliger Russisch-Lehrer, erfuhr von einer Schülerin, dass alle Mädchen und Jungen ihrer 10. Klasse den Krieg ablehnen. Dagegen habe eine als Reinigungskraft arbeitende ältere Frau sehr genau über Gründe des Krieges in der Ukraine und über die Situation Bescheid gewusst.
Peter Krämer gab einigen der jungen Russen, die später unter anderem als Diplomaten ihr Land vertreten werden, einen Rat: «Misstrauen Sie den Deutschen!» Auf ihre Verwunderung darüber erklärte er ihnen:
«Hier sitzen nur gute Menschen, die es gut mit Ihnen meinen, etwa 20 Menschen. Nehmen wir die mal 1000, dann sind es 200.000 gute Deutsche. Aber es gibt 97 Prozent Deutsche, die nicht so eingestellt sind.»
Er hoffe auf Widerspruch, sagte er dazu, als er den anderen aus der Gruppe davon berichtete. Nach seinem Eindruck, den andere bestätigten, wissen und begreifen viele der jungen Studenten offensichtlich nicht, was derzeit vor sich geht, auch weil sie kein historisches Bewusstsein mehr hätten. Sie hätten immer noch Vertrauen und Hoffnung auf den Westen, weshalb es wichtig sei, mit ihnen in Kontakt zu bleiben und sie darüber aufzuklären, «dass sie vom Westen nichts Gutes zu erwarten haben».
Die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, wie der sowjetische Kampf gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg in Russland weiterhin genannt wird, ist für die Menschen dort eher wie ein abgeschlossenes, wenn auch unvergessenes Kapitel. Das erklärte ein russischer TV-Journalist am 8. Mai im Gespräch auf dem Gelände des Piskarjowskoje-Friedhofs in St. Petersburg, wo mehr als 600.000 Opfer der Blockade der Stadt durch die Deutschen von 1941 bis 1944 in Massengräbern beerdigt sind. Die Russen würden der Opfer gedenken und den 9. Mai aber als Feiertag begehen, um den Sieg über den Faschismus und das Leben zu feiern.
Zuvor hatten an dem Tag zwei aus der deutschen Reisegruppe sich in die lange Reihe der Vertreter von Organisationen und Institutionen aus St. Petersburg, aber auch von Vertretungen anderer Länder, gestellt und wie diese Blumen am Denkmal «Mutter Heimat» auf dem Gedenkfriedhof niedergelegt. Per Lautsprecher wurden die beeindruckend lange Liste der Delegationen aufgezählt, darunter auch die von zahlreichen anderen Ländern. Westliche Staaten fehlten – und von den anwesenden Deutschen wussten die Organisatoren nichts.
Auf dem Piskarjowskoje-Friedhof zum Gedenken an die Blockade-Opfer (Foto: Éva Péli)
Dass sie da waren, dafür bedankten sich der Journalist des russischen Fernsehens und dessen Kameramann ebenso wie Maria aus St. Petersburg. Die sowjetische Chirurgin, wie sie sich vorstellte, bat die beiden Deutschen, sie mit ihrem Smartphone vor dem Denkmal zu fotografieren. Erfreut reagierte sie, als sie von der Herkunft der beiden erfuhr, bat um Fotos mit ihnen und wünschte ihnen Gesundheit und «мирное небо», einen «friedlichen Himmel».
Die anderen der Gruppe trafen sich am 9. Mai mit Vertretern der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei (RKAP) auf dem Piskarjowskoje-Friedhof. Sie sprachen dabei über politische Fragen und nahmen am Gedenken für die Blockadeopfer teil, zu dem am «Tag des Sieges» viele Menschen aller Generationen aus der Stadt zum Friedhof kamen.
Für die Deutschen zählte das zu den beeindruckendsten Erlebnissen während der Reise. Die Menschen seien ohne offizielle Aufforderung gekommen, staunte Hermann Kopp, der viele junge Petersburger auf dem Friedhof beobachtete. Uwe Erler sah, wie Menschen manchmal ein Stück Brot auf die Massengräber derer legten, die in Folge der faschistischen Blockade verhungert waren. Ihm habe das einen kalten Schauer über den Rücken gejagt, gestand er ein.
«Wir verneigen uns vor den Opfern, die, ihr Leben nicht schonend, ihre Stadt mutig verteidigten. Wir, die Nachfahren der schuldigen Deutschen, schämen uns, wenn wir die Worte am Ehrenmal lesen ‹Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen›, weil im wiedervereinten Deutschland alles vergessen zu sein scheint.»
Eines der Massengräber der Blockade-Opfer (Foto: Tilo Gräser)
Das sagte Edmund Peltzer, der ehemalige Russisch-Lehrer aus Leipzig, in seiner kleinen Rede bei dem Treffen mit den RKAP-Vertretern. Es sei eine Pflicht, gegen die im Westen politisch und medial angefeuerte Russophobie, gegen Hass und Hetze gegenüber allem Russischen zu kämpfen, «für ein friedliches, freundschaftliches Verhältnis zum Volk Russlands». Und er stellte klar:
«Wir werden die deutschen Verbrechen nicht vergessen und nicht eine heuchlerische Verzerrung der historischen Wahrheit zulassen, dies auch im Gedenken an die Opfer der Blockade Leningrads und des ruhmvollen Vaterländischen Krieges des ganzen sowjetischen Volkes.»
Damit sprach er offensichtlich die Gefühle der Anwesenden an, die mit Applaus reagierten, was auf einem Gedenkfriedhof nicht üblich ist, wie er berichtete. «Nicht wenige bedankten sich anschließend bei uns persönlich.»
Teil 3 folgt am Freitag
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2023 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop: