«Jedenfalls habe ich bei Russen keinen Argwohn gegenüber Deutschland gespürt. Man kann dafür nur dankbar sein. Schon deshalb steht es uns nicht zu, antirussische Gefühle zu hegen. Wenn jemand uns dazu verleiten will, sollten wir ihm die kalte Schulter zeigen.»
Das schrieb der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in seinem 2008 erschienenen Buch «Außer Dienst». Doch gegenwärtig scheint selbst diese Erkenntnis eines ehemaligen Wehrmacht-Leutnants und SPD-Politikers nur noch wenige zu interessieren.
Zu den wenigen, die der heute politisch und medial angeheizten Russophobie in Deutschland die «kalte Schulter» zeigen, gehören die 21 Menschen aus Deutschland, die in der ersten Maihälfte für insgesamt zehn Tage über Kaliningrad nach St. Petersburg reisten. Und sie kamen zurück nicht nur mit Andenken und Erinnerungsstücken, Büchern und CDs in ihren Koffern.
«St. Petersburg erwartet Dich» verkündete eine Werbetafel in Kaliningrad (Foto: Éva Péli)
Sie brachten noch viel mehr mit: Ihre Eindrücke und Beobachtungen, ihre Erinnerungen an die Begegnungen mit den Menschen in den russischen Städten – und das Wissen, dass ihr Wunsch nach Frieden zwischen den Völkern auch in Russland geteilt wird. Es fahren kaum noch Deutsche nach Russland, um das Land zu besuchen und kennenzulernen, erzählte Konstantin Ermisch, der in Leipzig die Firma «TopTransfer» betreibt, die Menschen nach Kaliningrad bringt.
Er fuhr einen der beiden Kleinbusse, mit denen ein Großteil der Gruppe durch Polen in die Stadt an der Ostseeküste kam. Die meisten seiner Passagiere in den letzten zwei Jahren seien Menschen, die aus Russland stammen und ihre Familien dort besuchen wollen. Ermisch, mit familiären Wurzeln in Russland und der Ukraine, betrieb bis zur Corona-Krise ein auf Russland spezialisiertes Reisebüro und hatte ein Büro am Flughafen Leipzig-Halle.
Er sei in den Tourismus gegangen, weil er Menschen zusammenbringen wolle, beschrieb er sein Motiv. Seit etwa zwei Jahren organisiert er nun Reisen nach Russland per Bus, hilft bei Formalitäten und fährt im Durchschnitt zweimal in der Woche selber hin und her. Er freute sich über seine Fahrgäste und deren Motiv für die Reise.
Die deutschen Russlandfahrer wurden vor der Reise in ihrem Umfeld in Deutschland zum Teil für «verrückt», aber auch für «mutig» gehalten und ihr Vorhaben mit Erstaunen darüber quittiert, dass das überhaupt möglich ist. Dagegen begegneten ihnen in Russland Menschen immer wieder mit Dank dafür, dass sie in diesen aufgehetzten Zeiten ihr Land besuchten.
Das erlebten sie unter anderem am dritten Tag ihrer Reise, als es per Taxi vom Hotel in Kaliningrad zum Flughafen der Stadt ging, von wo aus sie nach St. Petersburg flogen. Einer der Taxifahrer fragte Éva Péli, eine sprachkundige Mitfahrerin aus der Gruppe, ob das alles Deutsche seien, «die den Fernseher rausgeschmissen haben». Und erklärte dazu, in den westlichen Medien werde in Bezug auf Russland «nur Angst verbreitet».
Als er erfuhr, dass die Gruppe zum 9. Mai nach Sankt Petersburg fährt, um dort den 79. Jahrestag des Sieges der Roten Armee über den Faschismus zu feiern, war er sichtlich berührt und gleichzeitig erfreut. Ein weiterer Taxifahrer bedankte sich bei einigen der Deutschen dafür und sprach ihnen seinen Respekt für die Reise aus.
Hermann Kopp, Initiator der Reise (Foto: Éva Péli)
Die Idee zu der Fahrt nach Kaliningrad, dem früheren Königsberg, und St. Petersburg, das mal Leningrad hieß, stammte von Hermann Kopp, Historiker aus Düsseldorf. Er ist Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und sitzt im Vorstand der Marx-Engels-Stiftung. Neben jenen aus der Gruppe, die mit «TopTransfer» unterwegs waren, kamen einige der Russlandfahrer mit dem Stuttgarter Busunternehmen «Maier Reisen» oder individuell nach Kaliningrad.
Von der Stadt an der Ostsee aus ging es per Flugzeug weiter nach St. Petersburg – zurück wieder entsprechend über Kaliningrad per Bus. Die Teilnehmer kamen aus allen Teilen der Bundesrepublik, aus Ost und West, aus Nord und Süd. Einige waren schon mal in Russland – so Hermann Kopp, der 1972 das erste Mal im damaligen Leningrad war, oder Éva Péli, die aus Ungarn stammt und in Moskau studierte hatte.
Uwe Erler hatte bereits mehrmals mit der Gruppe «Druschba-Global» das Land bereist. Andere, wie der Autor oder die Schauspielerin Christa Weber, kamen zum ersten Mal nach Russland. Die meisten sind Mitglieder der DKP und der Marx-Engels-Stiftung.
Nur wenige nahmen ohne Parteibuch und nicht aus offensichtlich politischen Motiven an der Reise teil, unterstützten aber deren Grundanliegen. Organisator Kopp wollte der verbreiteten Russophobie in Deutschland entgegentreten, wie er erklärte. Zugleich wollte er selbst sehen, was sich im heutigen Russland verändert hat, nachdem er 1972 das erste Mal im damals sowjetischen Leningrad und später noch mehrmals in der Sowjetunion beziehungsweise in Russland war.
In Kaliningrad am 5. Mai 2024 (Foto: Tilo Gräser)
Ihm sei klar, dass das Land heute kapitalistisch ist, findet aber, dass es immer noch eine antiimperialistische und fortschrittliche Rolle spielt. In einem Interview mit dem Kaliningrader Sender Kaskad-TV benannte Kopp zwei Motive der Reise:
«Das Erste ist, die russischen Menschen und Russland kennenzulernen, zu spüren, wie das Leben hier abläuft. Und das zweite ist das Hauptziel für uns: Wir haben jetzt eine sehr heftige Russophobie in Deutschland. Unsere Politiker sagen, wir sollten uns auf einen Krieg mit Russland vorbereiten. Und wir wollen mit dieser Reise zeigen, dass wir für den Frieden mit Russland sind.»
Die Reiseteilnehmer erlebten immer wieder kleine Überraschungen, so, als ihnen zu Beginn, am 5. Mai, in Kaliningrad, dem früheren Königsberg, ein Mann zurief «Hitler kaputt!». Es war der orthodoxe Ostersonntag, in der Stadt voller Menschen kündete nicht nur vieles vom Bernstein, der in der Region an der Ostsee zu finden ist, sondern ebenso vom bevorstehenden 9. Mai, dem «Tag des Sieges».
Damit begeht Russland bis heute den Sieg 1945 über das faschistische Deutschland, dessen Wehrmacht die Sowjetunion am 22. Juni 1941 vertragsbrüchig überfallen und mit einem barbarischen Vernichtungskrieg überzogen hatte. Das zur Festung erklärte Königsberg war am 9. April 1945 von der Roten Armee erobert und 1946 umbenannt worden.
Fahnen, Transparente und Plakate kündigten den Feiertag an. Zugleich gab es überall Hinweise auf den 300. Geburtstag Immanuel Kants, des deutschen Philosophen – bis hin zu Ess- und Trinkständen auf der «Kant-Insel» unter dem Motto «Обед на Канта» (deutsch: Mittag bei Kant), gleich neben dem mit deutschen Spenden wiederaufgebauten Dom mit Kants Grab.
Da gab es auch «Kantwein», ein Glühwein, ebenso wie deutsches Bier und Fleisch auf deutsche Art. In der Stadt gab es außerdem «Kant-Märkte», während eine Bäckerei-Kette mit dem Namen «Königsbäcker» geschichtsorientiert warb – obwohl die vielen Deutschen, die in den Jahren seit 1990 auf der Suche nach den ostpreußischen Spuren in die Stadt kamen, nun fernbleiben.
«Обед на Канта» gleich neben dem Dom auf der «Kant-Insel» (Foto: Éva Péli)
Der Stadt, einem Zentrum des früheren Ostpreußens, sind die Zerstörungen in Folge des deutschen Wahns im 2. Weltkrieg anzusehen. Vieles wurde in der sowjetischen Zeit neu gebaut, manches wie das «Haus der Räte» nicht zu Ende gebracht und für anderes reichte offensichtlich später das Geld nicht aus, um es entsprechend zu pflegen.
Trotzdem macht die belebte Stadt an der Ostsee nicht den Eindruck eines untergehenden Schiffes. Manches entstand auch in der Zeit nach der Sowjetunion neu, getragen von der Hoffnung, dass Kaliningrad als Tor zwischen Ost und West eine neue Zukunft haben könnte.
Ihre Einwohner nutzten das bis zum frühen Abend schöne Wetter am Ostersonntag für Ausflüge. Auch zahlreiche Geschäfte waren geöffnet, nicht nur die Souvenirläden – ein Blick hinein zeigte, dass die westlichen Sanktionen weitgehend verpuffen. Viele junge Menschen waren auf den Straßen unterwegs, gemeinsam, allein, gingen feiern oder trafen sich einfach mit Freunden.
(Foto: Tilo Gräser)
Mit dem Flugzeug ging es dann am 6. Mai zum eigentlichen Ziel, St. Petersburg, der geschichtsträchtigen Stadt an der Newa. Die Route führt seit dem Februar 2022 infolge der Sanktionen nicht mehr über die baltischen Staaten, sondern über die Ostsee.
Die Stadt war ebenfalls geschmückt für den nahen 9. Mai, mit Fahnen und Symbolen, Plakaten und Transparenten. Und neben der russischen Nationalflagge wehte immer die sowjetische Siegesfahne vom Mai 1945, die damals auf dem Berliner Reichstag gehisst wurde. Über den Kanälen in der Stadt schwebten symbolisch Kraniche – die weißen Vögel sind in Russland das Symbol der gefallenen Soldaten.
St. Petersburg am 6. Mai 2024, Ploschtschad Wosstanija (russisch: Площадь Восстания) im Zentrum der Stadt (Foto: Tilo Gräser)
Zur gleichen Zeit wurden in Berlin und in anderen deutschen Orten für den 8. und 9. Mai zu den Gedenk- und Siegesfeiern an sowjetischen Ehrenmalen alle sowjetischen Symbole, Fahnen und Lieder verboten, ebenso alle russischen. An den beiden Tagen kontrollierten dann deutsche Polizisten die Zugänge zu den Ehrenmalen und verhafteten Berichten zufolge immer wieder Menschen, die die Verbote missachteten.
Sie verschlossen demnach aber auch manchmal Augen und Ohren und schritten nicht ein, so als am 9. Mai am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow viele Menschen gemeinsam vom «Heiligen Krieg» sangen, das sowjetische Lied über den Großen Vaterländischen Krieg.
In der großen, vielfältigen und weitläufigen Stadt St. Petersburg zeugt vieles von ihrer reichen und bewegten Geschichte. Gleichzeitig müssen zunehmend alte Gebäude neuen weichen, wie der Blick durch das Taxifenster bei der Fahrt vom Flughafen über den Moskowskii-Prospekt zum Hotel Oktjabrskaja im Zentrum zeigte. Dabei entstehen zumeist Hochhäuser, die hoffentlich neue Wohnungen für viele Menschen bringen, aber optisch nicht mit den Gebäuden aus der Stalin-Ära mithalten können, die den Prospekt in Richtung Zentrum säumen.
Dann bleibt noch die Frage, ob die neuen Wohnungen für viele erschwinglich sind. Der monatliche Durchschnittslohn in St. Petersburg liegt nach amtlichen Angaben bei fast 66.000 Rubel (rund 660 Euro). Für eine eher kleine Wohnung von etwa 30 Quadratmetern sind mehrere Millionen Rubel zu bezahlen, die dann über Jahre abgezahlt werden müssen – wenn die Menschen einen Kredit bekommen.
Eines der Neubaugebiete von St. Petersburg, vom Taxi aus gesehen (Foto: Tilo Gräser)
Doch viele erreichen den Durchschnittslohn nicht und der Mindestlohn liegt bei etwa 20.000 Rubel (rund 200 Euro). Ein Taxifahrer berichtete, dass seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine auch Wohnungen deutlich teurer geworden seien. Es gebe zwar staatliche Unterstützungsprogramme, die aber in der Realität nicht immer bei denen ankämen, die sie benötigen.
Teil 2 folgt am Mittwoch.
geändert am 31.5.24, 10:15 Uhr
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