Am 9. Mai begegneten sich in St. Petersburg am Rande der Siegesparade zwei Männer, der eine aus Russland, der andere aus Deutschland. Der Tag ist in Russland als «Tag des Sieges» ein Feiertag: In der Nacht vom 8. Mai zum 9. Mai 1945 wurde in Berlin-Karlshorst die deutsche Kapitulation gegenüber den alliierten Siegermächten unterschrieben – da war in Moskau wegen der Zeitverschiebung der neue Tag schon angebrochen.
«Heldenstadt Leningrad» ist immer noch auf einem Gebäude gegenüber dem Moskauer Bahnhof von St. Petersburg zu lesen (Foto: Tilo Gräser)
Der eine der beiden trug als Teilnehmer des «Unsterblichen Regiments» auf einem Schild und auf seinem T-Shirt die Bilder der vier Großväter seiner Familie. Sie waren alle im «Großen Vaterländischen Krieg» nach dem faschistischen deutschen Überfall am 22. Juni 1941 gefallen, zwischen 1942 und 1943.
Der andere – Autor dieses Berichts – war mit einer Gruppe aus Deutschland für einige Tage in die Stadt an der Newa gekommen. Die Reise war auch erfolgt, um am 9. Mai, dem «Tag des Sieges», den Respekt vor den Opfern des Sieges über den Faschismus zu bekunden.
Der eine Großvater des Deutschen war als deutscher Soldat aus Ostpreußen am 22. Juni 1941 mit in die Sowjetunion einmarschiert und später mit seiner Einheit auch an der Blockade von Leningrad beteiligt. Er kam aus dem Krieg nicht wieder nach Hause und wurde Anfang 1944 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine als vermisst gemeldet.
Die beiden Männer erzählten sich mit Hilfe einer sprachkundigen Reiseteilnehmerin von ihren Großvätern. Wassili, der Russe aus St. Petersburg, sagte, dass Krieg immer nur wegen Geld und Rohstoffen geführt werde. Es gehe nie um die Interessen der einfachen Menschen, die in Frieden leben wollen.
«мирное небо» statt Hass und Hetze
Er berichtete auch von der Sorge um seinen Sohn, der als Offizier in der russischen Schwarzmeer-Flotte dient. Beim Abschied umarmten sich die beiden Männer aus Russland und Deutschland und wünschten sich gegenseitig Gesundheit sowie immer einen «мирное небо», einen «friedlichen Himmel», wie es in Russland heißt.
Am 9. Mai in St. Petersburg: Wassili aus St. Petersburg (rechts) und der Autor (Foto: Éva Péli)
Zur gleichen Zeit war unter anderem in Berlin, der deutschen Hauptstadt, allen, die am «Tag des Sieges» zu den sowjetischen Ehrenmälern kamen, das Tragen von sowjetischen und russischen Symbolen und Fahnen ebenso wie das Singen russischer und sowjetischer Lieder verboten. Die deutsche Polizei kontrollierte alle, die den Tag feiern wollten, schaute in deren Taschen, suchte krampfhaft nach verbotenen Symbolen und nahm mehrere Personen fest, die solche dennoch trugen.
Die kleine Begegnung in St. Petersburg gehört zu den Erlebnissen einer Gruppe von 21 Deutschen, die am 4. Mai für zehn Tage nach Russland fuhren. Organisiert hatte das Hermann Kopp von der Marx-Engels-Stiftung. Mit Hilfe des Leipziger Unternehmens TopTransfer reisten sie mit zwei Kleinbussen nach Kaliningrad. Von dort aus ging es per Flugzeug weiter nach St. Petersburg – zurück ging es wieder entsprechend über Kaliningrad per Bus.
Die Teilnehmer kamen aus allen Teilen der Bundesrepublik, aus Ost und West, aus Nord und Süd. Einige waren schon mal in Russland – so Hermann Kopp, der 1972 das erste Mal in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, war, oder Éva Péli, die in Moskau studierte hatte, oder Uwe Erler, der bereits mehrmals mit der Gruppe Druschba-Global das Land bereist hatte. Andere, wie der Autor oder die Schauspielerin Christa Weber, kamen zum ersten Mal nach Russland.
Sie hatten sich ein umfangreiches Programm vorgenommen, von Stadtrundgängen und dem Besuch der «Ermitage» über den Auftritt des Bolschoi-Balletts im neuen Mariinski-Theater 2 bis zu Begegnungen und Gesprächen mit Studenten sowie mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) und der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei (RKAP). Die meisten der Deutschen kamen aus der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und anderen linken Organisationen und wollten von ihren Gesprächspartnern mehr über die politische und soziale Lage in Russland erfahren.
Beeindruckende Erlebnisse
Sie wollten ebenso mit ihrer Reise der in Deutschland verbreiteten Russophobie entgegentreten, wie Hermann Kopp im Gespräch erklärte. Für ihn war nach seinen Worten das Ziel St. Petersburg wichtig, weil die deutsche Blockade der Stadt an der Newa im 2. Weltkrieg vor nunmehr 80 Jahren durch die sowjetische Armee beendet wurde.
Hermann Kopp (links) neben Alexander Hüser im Gespräch mit dem Team von kaskad-tv in Kaliningrad (Foto: Tilo Gräser)
An diesem Beispiel sei der damals geplante Völkermord der deutschen Faschisten besonders deutlich geworden. Mit Blick auf heute sagte er:
«Diejenigen, die bei uns denken, sie können Russland in die Knie zwingen, werden sich wundern, auf welchen Widerstand sie da stoßen. Das muss man unserer Bevölkerung auch deutlich machen.»
Alexander Hüser, einer der Deutschen aus der Gruppe, sagte dem Kaliningrader Sender kaskad-tv vor dem sowjetischen Ehrenmal in der Stadt:
«Natürlich ist es für uns Deutsche auf der einen Seite ein beschämendes Gefühl, hier zu stehen. Wir wissen nämlich, dass unser Land, die Faschisten Ihr Land angegriffen haben. Sie haben Zivilisten getötet. Aber auf der anderen Seite wissen wir natürlich auch, dass nicht wir es waren, die das getan haben, nicht die Leute, die hier stehen, sondern es waren Faschisten.»
Kopp, Hüser und die anderen waren besonders von dem Besuch auf dem Piskarjowskoje-Friedhof von St. Petersburg beeindruckt. Dort sind mehr als 600.000 Opfer der Blockade der Stadt durch die Deutschen in Massengräbern beerdigt. Am 9. Mai kamen viele Menschen aus St. Petersburg und der Umgebung, dem Leningrader Oblast, dorthin, um der Toten zu gedenken.
Das sei ohne offizielle Aufforderung geschehen, staunte Kopp, der auch viele junge Menschen auf dem Friedhof sah. Uwe Erler beobachtete, wie Menschen manchmal ein Stück Brot auf die Massengräber derer legten, die in Folge der faschistischen Blockade verhungert waren.
Am 8. Mai 2024 auf dem Piskarjowskoje-Friedhof von St. Petersburg (Foto: Tilo Gräser)
Am Tag zuvor waren einige aus der Gruppe bei der offiziellen Kranzniederlegung auf dem Friedhof dabei gewesen. Sie erlebten, wie Vertreter verschiedenster gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen der Toten gedachten. Per Lautsprecher wurden die Namen der Delegationen aufgezählt, darunter auch die von zahlreichen anderen Ländern. Westliche Staaten fehlten – und von den anwesenden Deutschen wussten die Organisatoren nichts.
Herzliche Begegnungen
Sie reihten sich in den Gedenkzug ein und legten Blumen am Denkmal «Mutter Heimat» nieder. Danach kamen sie mit Maria ins Gespräch, einer sowjetischen Chirurgin, wie sie sich selbst vorstellte. Sie freute sich, dass Deutsche an der Ehrung teilnahmen. Sie bedankte sich dafür ebenso wie Journalisten vom russischen Fernsehen, mit denen die Deutschen gleichfalls sprachen.
Das hatten die Mitglieder der Gruppe, die nicht immer gemeinsam unterwegs waren, mehrfach erlebt: Immer wieder bedankten sich Menschen in St. Petersburg und auch in Kaliningrad, dass sie gerade am 9. Mai in Russland waren. Sie sprachen ihren Respekt dafür aus, dass die Deutschen diese Reise in diesen konfliktbeladenen Zeiten unternahmen.
Nicht nur auf die Einwohner Kaliningrads, des ehemaligen deutschen Königsberg, wirkten die Deutschen auch als «Rarität». Dass diese trotz der gegenwärtigen politischen Lage nach Russland reisten, fanden die Menschen in dem Land «bewundernswert». In Deutschland ernteten die Russlandfahrer schon vorher zum Teil Kopfschütteln und Unverständnis – aber auch die Sorge, ob sie überhaupt wieder zurückkommen können.
Christa Weber bedankte sich am letzten Abend in St. Petersburg im Namen der ganzen Gruppe bei Hermann Kopp (Foto: Tilo Gräser)
Schauspielerin Christa Weber sagte am Schluss der Reise:
«Wir haben wunderbare Menschen kennengelernt, die uns ohne Ressentiments entgegengekommen sind. Stolze, aufrechte, hilfsbereite, humorvolle, aufgeschlossene Menschen, die sich bei uns bedankten, dass wir sie besuchten. Sie bei uns! Oftmals beschämte mich ihre große Gastfreundschaft, wenn ich an die Russophobie dachte, die derzeit bei uns zu Hause herrscht.»
Ähnlich wie die anderen Mitglieder der Gruppe erklärte sie, sie wolle sich «jetzt noch leidenschaftlicher dafür einsetzen, dass unsere Politiker und die Drahtzieher dahinter, es nie wieder schaffen, uns gegen die Russen aufzuhetzen. Nie wieder dürfen Deutsche bereit sein, gegen dieses großartige Volk in den Krieg zu ziehen.»
Eine ausführliche Reportage folgt in Kürze
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