Während die Bilder der Bürgenstock-Konferenz um die Welt gingen, während die wunderschöne Landschaft am Vierwaldstättersee als Kulisse für das Klassenfoto der Mächtigen diente, äußerte sich der frühere Botschafter Jean-Daniel Ruch in einem Interview mit der Schweizer Finanzplattform Inside Paradeplatz zu Themen wie Frieden und Neutralität in einer polarisierten Welt. Die Plattform ist wichtig, sie ist praktisch Pflichtlektüre für alle, die in der Schweizer Finanzszene Rang und Namen haben. Es war wohl eine der Antworten Ruchs auf sein jähes Karriereende im letzten Herbst, das wir hier in einem Newsletter beleuchteten.
In einer zunehmend polarisierten Welt, in der viele Menschen gezwungen sind, zwischen Gut und Böse zu wählen, betont Ruch die Wichtigkeit, die tatsächlichen Interessen und Hintergründe zu verstehen – jedoch ohne sich diese notwendigerweise zu eigen zu machen. Dieser Ansatz ist für ihn nichts anderes als gesunder Menschenverstand, und er hat großes Vertrauen in die Reife der Schweizer Stimmbürger. Im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen oft entlang der Parteigrenzen abgestimmt wird, entscheiden sich die Schweizer Wähler mal für linke, mal für rechte Positionen, je nachdem, worum es in der Sache geht.
Ruch ist Bernjurassier. Dieses französischsprachige Gebiet war am Wiener Kongress 1815 dem Kanton Bern als Kompensation für den Verlust der Waadt zugetragen worden. Er wuchs dort in einfachen Verhältnissen auf, studierte aber internationale Beziehungen in Genf. Seine politische Erfahrung begann mit dem Jurakonflikt, einem Identitätskonflikt, der durch Gefühle der Diskriminierung und Spannungen geprägt war.
Durch geduldiges Verhandeln, zweitweises Entgegenkommen und demokratische Entscheide konnte dieser Konflikt, der leicht in einen Bürgerkrieg hätte abgleiten können, gelöst werden. Diese frühen Erfahrungen – im heute friedlichen Dorf Eschert hatte Ruch 1975 beobachtet, wie Molotow-Cocktails geworfen wurden – prägten sein Verständnis für globale Konflikte und deren Wurzeln.
In seiner diplomatischen Karriere war Ruch oft in Krisengebieten im Einsatz, um zerstrittene Parteien an einen Tisch zu bringen. Ein Beispiel dafür ist seine Arbeit an einer Lösung des Nahostkonflikts. Er betont die Notwendigkeit, mit allen Hauptakteuren zu sprechen, auch mit der Hamas, um eine Zweistaatenlösung zu erreichen.
Ruch ist überzeugt, dass die Eskalation des Konflikts am 7. Oktober 2023 nicht unvermeidlich war und durch Dialog und Diplomatie positive Entwicklungen möglich gewesen wären. Die Hamas sei bis 2017 zu einer Verhandlungslösung bereit gewesen, die eine Zweistaatenlösung ergeben hätte. Der jetzige Ministerpräsident Netanjahu habe aber die Strategie verfolgt, den Konflikt zu managen, ohne aber eine Zweistaatenlösung zuzugestehen.
Ruch vergleicht die Geopolitik der Welt mit einem Schachspiel. Die Dominanz der USA, die auf einem OSZE-Treffen 1999 mit Chirac, Schröder, Clinton und Jelzin, das Ruch anschaulich beschreibt, ihren Höhepunkt erreichte, ist seitdem kontinuierlich gesunken. Heute sieht er die amerikanische Herrschaft auf dem absteigenden Ast.
Auch in Bezug auf die Bürgenstock-Konferenz von 15. und 16. Juni äußert er sich deutlich. Der Titel sei falsch, es sei keine Friedenskonferenz, da die Ukraine Russland nicht am Tisch haben wollte. War die Schweiz deshalb der Ausführungsgehilfe der Ukraine?
Ruch hätte eine andere Methodologie gewählt. Die Schweiz, das heißt Verteidigungsministerin Amherd und Außenminister Cassis, hätten die Konferenz zu früh öffentlich angekündigt und konnten dann nicht mehr zurückkrebsen – die Ukraine konnte diese Bedingung stellen. Ruch hätte zuerst alles hinter den Kulissen vorbereitet und erst angekündigt, wenn das Teilnehmerfeld klar gewesen wäre.
Mittlerweile schreiben sogar die Leitmedien in der Schweiz, dass es zu Verhandlungen mit Russland kommen muss und dass die Absenz Russlands ein Mangel der Konferenz war.
Angekündigt war Ruch im Herbst als Staatssekretär für Sicherheitsfragen. Dann berichteten die Medien von angeblichen Sexeskapaden mit Prostituierten in der Botschaft von Tel Aviv – und sogar über Bettgeschichten mit Spioninnen. Beweise gab und gibt es nicht. Aber trotzdem: Amherd entließ ihren Spitzendiplomaten umgehend, obwohl dieser angeboten hatte, die Kampagne durchzustehen. Ruch vermutet hinter der gezielten Schmutzkampagne, für die sich die Medien vor den Karren spannen ließen, Strippenzieher hinter Viola Amherd – gibt aber keine Details preis.
Während der Griechenlandkrise wurden die Bewohner der französischsprachigen Schweiz oft als «die Griechen der Schweiz» betrachtet, was die Polarisierung der Meinungen weiter verschärfte. Die Weltwoche, der Verlag, der nun die deutsche Übersetzung von Ruchs Buch verlegte, hatte damals diese Metapher von den «Griechen der Schweiz» geprägt.
Mit dem Ukrainekrieg änderte Ruch seine Meinung über die Weltwoche. Das auch im Ausland viel beachtete und in Zürich verlegte Blatt ist eine der wenigen Publikationen, die verschiedene Meinungen dazu veröffentlichen. Ruch betont im Gespräch mit Inside Paradeplatz-Journalist Lukas Hässig immer wieder, dass man, um Lösungen zu finden, mit allen Seiten reden muss, auch mit schwierigen Gesprächspartnern wie Putin und der Hamas.
Eine zentrale Frage für Ruch ist, ob die Schweiz ihre Neutralität bewahren kann. Obwohl sie rechtlich gesehen immer noch neutral sei, werde sie politisch oft nicht mehr als solche wahrgenommen. Für Ruch ist die Neutralität ein wichtiger Bestandteil der Schweizer Identität und eine Soft Power. Er unterstützt deshalb die Rückkehr zur integralen Neutralität und eine entsprechende Volksinitiative, die der Landesregierung helfen könnte, gegenüber dem Ausland klar zu argumentieren und Sanktionen nicht ohne weiteres automatisch nachzuvollziehen, wie das im Fall der Ukraine geschah.
Jean-Daniel Ruch steht für eine offene und dialogbereite Haltung in einer polarisierten Welt. Er glaubt an den gesunden Menschenverstand und die Reife der Schweizer Bürger, die in der Lage sind, über die Parteipolitik hinauszudenken und im Sinne der Sache zu entscheiden. Für ihn ist der ständige Dialog und das Bemühen um Verständnis der Schlüssel zu Frieden und Gerechtigkeit.
Jean-Daniel Ruch: Frieden und Gerechtigkeit. Mit einem Geleitwort von Micheline Calmy-Rey. Verlag Weltwoche, 173 S. Die französischsprachige Ausgabe ist unter dem Titel «Crimes et tremblements» (Editions Favre) erhältlich.
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