Den Völkermord Israels an den Palästinensern zu stoppen – das ist das Ziel der Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), wie der US-amerikanisch-schweizerische Völkerrechtler Alfred de Zayas in einem Interview erklärt. Es handelt sich aus seiner Sicht um «eine historische Zäsur, eine bewusste Ablehnung der Straflosigkeit Israels seit 75 Jahren, ein Schrei für Gerechtigkeit, ein Ausdruck der Hoffnung in der internationalen Justiz, eine logische Folge der Verpflichtungen, die sich aus der Uno-Charta ergeben».
Zayas, der auch als UNO-Beamter tätig war, sagt das in einem Interview, das das Schweizer Magazin Zeitgeschehen im Fokus mit ihm führte und in seiner Ausgabe vom 17. Januar veröffentlichte. Darin erläutert er die völkerrechtlichen Grundlagen der südafrikanischen Klage und kritisiert deutlich die westliche Unterstützung für Israel. Und er fordert internationale Unterstützung:
«In einer derartigen fundamentalen Frage der jahrzehntelangen Impunität [Straflosigkeit – Anm. d. Red.] des Staates Israel für die laufenden Okkupationsverbrechen, für die Apartheidpolitik, für die Unterdrückung der Palästinenser braucht man internationale Solidarität.»
Es gehe nicht nur um die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023, betont Zayas, «sondern um Jahrzehnte der Unterdrückung durch Israel, um die seit 2007 von Israel verhängte Blockade, die für eine humanitäre Katastrophe in Gaza sorgte, wogegen sich die Hamas wehrte». Allein die israelische Blockadepolitik erfülle Artikel II c der Völkermordkonvention, der die «vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet ist, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen», benennt.
Globale Mehrheit gegen westlichen Imperialismus
Zur Frage, warum Südafrika in dem Fall aktiv wurde, sagt Zayas, dass der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa «nicht der einzige Afrikaner, der die Politik des Westens für verbrecherisch hält», sei. Zudem habe sich Ramaphosa in den letzten Jahren als ernstzunehmender Staatsmann gezeigt, unter anderem durch eine Friedensinitiative zum Ukraine-Krieg.
«Mir scheint es, dass die Verheissung der Vernunft und des Rechts nicht mehr aus Amerika und Europa kommt, sondern aus der sogenannten ‹Dritten Welt›, von einer globalen Mehrheit, die den westlichen Imperialismus, die westliche Doppelmoral und Hypokrisie satthat. Die westlichen Staaten haben dagegen die Verbrechen Israels nicht nur geduldet, sondern auch mitfinanziert.»
Der Völkerrechtler sagt, dass Südafrika völkerrechtlich richtig liege und niemand bestreiten könne, dass Israels Vorgehen gegen die Völkermordkonvention verstösst. «Die Lage ist juristisch gesehen klar», hebt er hervor. Dagegen würden die israelischen und US-amerikanischen Juristen aus politischen Gründen versuchen, die absichtsvolle ethnische Säuberung Palästinas als «Selbstverteidigung» Israels darzustellen.
Doch diese «Banalisierung der Lage» werde schon durch zahlreiche Aussagen israelischer Politiker und Militärs widerlegt. Zayas verweist auf viele israelische Verstösse gegen das Völkerrecht seit Jahrzehnten und eine Reihe von internationalen Verfahren dagegen.
Eindeutige Absicht zum Völkermord
Die «Absicht», Völkermord zu begehen, müsse bewiesen werden, betont er. «Erstaunlicherweise liefern die konkreten Aussagen und Befehle israelischer Politiker und Militärs den Beweis die, ‹Gruppe› der Palästinenser ‹als solche ganz oder teilweise zu zerstören›», erklärt er mit Verweis auf die Völkermordkonvention.
«Das Vorgehen Israels in Gaza erfüllt zweifelsohne die Kriterien eines Völkermords. Aber nicht erst seit dem 7. Oktober 2023. Das Vorgehen Israels erfüllte auch seit Jahrzehnten die Kriterien des Verbrechens der Apartheid im Sinne der Konvention von 1976 (International Convention on the Suppression and Punishment of the Crime of Apartheid).»
Zayas erinnert an die Mitverantwortung der westlichen Regierungen und Medien, die Israel seit Jahrzehnten als das angeblich einzige «demokratische» Land im Nahen Osten preisen. Gleichzeitig hätten sie gegen die Palästinenser gehetzt und «dabei gegen Artikel 20 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte verstossen». Er stellt fest:
«Jene Politiker, Journalisten, Akademiker und Medien, die die Verbrechen Israels banalisieren und verleugnen, sind ebenfalls im Sinne des Artikels III Absatz c der Völkermordskonvention daran beteiligt.»
Der Völkerrechtler erklärt, Israel könne sich bei seinem Feldzug nicht auf Artikel 51 der UNO-Charta berufen, denn es sei «ein Okkupant, ein Besetzer». Die Palästinenser hingegen könnten sich auf ihr Recht auf Selbstbestimmung stützen «und daher auch ein Recht auf Selbstverteidigung gegenüber Israel in Anspruch nehmen». Das habe in zahlreichen UN-Resolutionen wie 2625 und 3314 seine Grundlage.
«UN-Charta legitimiert nicht Völkermord»
«Selbstverteidigung ist mit Völkermord nicht gleich zu setzen», betont Zayas. Selbstverteidigung gemäss der UNO-Charta sei eine Ausnahme und nur dann möglich, wenn sie von kurzer Dauer sei, bis sich der Sicherheitsrat damit beschäftigt. Uno-Generalsekretär António Guterres habe Artikel 99 der UNO-Charta aktiviert und den Sicherheitsrat aufgefordert, Frieden in Gaza zu ermöglichen. Dies sei durch einen Staat, die USA, vereitelt worden. Ausserdem müsse jede «Selbstverteidigung» die Verhältnismässigkeit wahren, so der Völkerrechtler.
«Art. 51 der UNO-Charta liefert keine Legitimierung der Völkermordpolitik Israels.»
Zayas sagt, dass der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 «nicht der Beginn des Krieges» war, «sondern eine Antwort auf die illegale Blockade» des Gaza-Streifens durch Israel seit 2007. Er erinnert in dem Zusammenhang an den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943:
«Der Warschauer Aufstand im Mai 1943 war durchaus verständlich und legitim. Aber er wurde durch die Nazis mit Völkermord beantwortet.»
Zudem verletze Israel auf groteske Weise das Prinzip der Verhältnismässigkeit, wenn es als «Antwort» auf die offiziell 1200 Toten am 7. Oktober inzwischen mehr als 23’000 Menschen in Gaza getötet hat. Die meisten seien Zivilisten, die nach der IV. Genfer Konvention von 1949 schutzbedürftig seien.
Westliche Unterstützung wider das Völkerrecht
Auch die Rolle der westlichen Politiker, die Israel seit Jahrzehnten unterstützen, müsse untersucht und gegebenenfalls unter Strafe gestellt werden, so der Völkerrechtler. Auf die Frage nach den möglichen Konsequenzen der südafrikanischen Klage erklärt er:
«Juristisch gesehen müsste Israel den Krieg sofort beenden und enorme Wiedergutmachung an die Palästinenser bezahlen. Aber der Internationale Gerichtshof besitzt keine Möglichkeiten, für die Umsetzung seiner Urteile zu sorgen. Dies kann der UNO-Sicherheitsrat, aber er kann es nicht tun, denn die USA werden mit Sicherheit ein ‹Veto› einlegen – inzwischen sind es mehr als 80 Resolutionen über Israel, die die USA durch ein Veto vereitelt haben.»
Nur eine Weltkoalition, die die Straffreiheit Israels nicht mehr dulde, könne Zwangsmassnahmen ergreifen. Als Beispiele dafür nennt Zayas, keinen Handel mehr mit Israel zu treiben, nichts mehr aus Israel zu kaufen oder zu verkaufen, keinem israelischen Flugzeug Landegenehmigung zu geben, keinem israelischen Schiff Hafen zu bieten.
Aber leider gebe es zu viele Präzedenzfälle, bei denen die IGH-Urteile ignoriert wurden. Er erinnert dabei an das Urteil gegen die USA 1986 wegen der verdeckten Aggression und ihrer Einmischung in Nicaragua. Zayas warnt:
«Israel und die USA versuchen, die UNO-Charta auszuschalten, die Völkermordkonvention von 1948 und die Genfer Konventionen von 1949 zu unterminieren. Wenn es so weiter geht, und dies von der Weltgemeinschaft toleriert wird, haben wir ein Chaos, haben wir kein Völkerrecht mehr.»
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