Die in den USA aufgewachsene Jüdin Deborah Feldman lebt seit fast einem Jahrzehnt in Deutschland. Sie besitzt nun die doppelte, also die deutsche und die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. In Ihrem New York Times-Bestseller «Unorthodox» beschreibt sie das Leben in der chassidischen Satmar-Gemeinde im New Yorker Stadtteil Williamsburg, in der die weltweit strengsten Regeln einer ultraorthodoxen jüdischen Gruppe herrschen. Die Autorin lässt den Leser dann an ihrer Flucht aus dieser Gemeinde nach Berlin teilhaben.
Im Guardian bedauert Feldman nun, dass die einzigen Menschen, mit denen sie jemals über den Nahostkonflikt habe diskutieren können, Israelis und Palästinenser gewesen seien. Die Deutschen würden dazu neigen, jeden Versuch eines konstruktiven Gesprächs mit der beliebten Floskel abzubrechen, das Thema sei «viel zu kompliziert».
Feldman kritisiert eine deutschen Gesellschaft, in der jede Kritik an Israel als «antisemitisch» betrachtet werde. Sie erläutert:
«Ich habe auch festgestellt, dass die öffentliche Darstellung der Juden in Deutschland von einer transaktionalen Beziehung bestimmt wird – und dass sie die Ansichten einer unsichtbaren Mehrheit jüdischer Menschen verdeckt, die nicht zu Gemeinden gehören, die vom deutschen Staat finanziell unterstützt werden, und die nicht ständig die einzigartige Bedeutung der bedingungslosen Loyalität gegenüber dem Staat Israel betonen.
Aufgrund der enormen Macht, die die offiziellen Institutionen und Gemeinden ausüben, werden die Stimmen der nicht Zugehörigen oft zum Schweigen gebracht oder diskreditiert und durch die lauteren Stimmen der Deutschen ersetzt, deren Holocaust-Schuldkomplexe sie dazu veranlassen, das Jüdisch-Sein bis zur zwanghaften Verkörperung zu fetischisieren.»
Feldman beschreibt die Reaktionen auf ihr Buch «Judenfetisch», in dem sie zum Thema macht, wie jüdische Menschen in Deutschland durch zielstrebige Opportunisten in grossem Stil verdrängt werden. So habe beispielsweise ein Journalist, der für eine deutsch-jüdische Zeitung geschrieben hat, behauptet, sie übe nur Kritik, weil sie angeblich einen Israel-Hass pflege und angeblich «posttraumatischen Stress» erlebe als Folge davon, dass sie «als Frau die ultra-orthodoxe Gemeinde verlassen hatte». Sie stellt fest:
«Das Schreckgespenst des jüdischen Erbes wird immer wieder für Machtzwecke eingesetzt, weil das Judentum selbst heilig und unantastbar ist.»
Die Autorin sei, wie die meisten säkularen Juden in Deutschland, an die Aggressionen gewöhnt, die «das mächtige, staatlich unterstützte ‹offizielle Judentum›» gegen diese richte. Theateraufführungen, die in New York und Tel Aviv mit stehenden Ovationen bedacht würden, würden in Deutschland auf deren Geheiss abgesagt. Autoren würden ausgeladen, Preise zurückgezogen oder verschoben, Medienunternehmen unter Druck gesetzt, um deren Stimmen von ihren Plattformen auszuschliessen. Feldman macht klar:
«Seit dem 7. Oktober ist jeder, der die deutsche Reaktion auf die schrecklichen Anschläge der Terrororganisation Hamas kritisiert, einer noch stärkeren Ausgrenzung ausgesetzt als sonst.»
Aufgrund dessen, dass Palästinenser und Muslime im Allgemeinen in Deutschland kollektiv für die Hamas-Anschläge verantwortlich gemacht werden, unterzeichnete Feldman zusammen mit mehr als 100 jüdischen Akademikern, Schriftstellern, Künstlern und Denkern einen offenen Brief, in dem sie die deutschen Politiker aufforderten, nicht die letzten verbleibenden sicheren Räume zu beseitigen, in denen Menschen ihre Trauer und Verzweiflung ausdrücken können.
Die Reaktion der «offiziellen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland» beschreibt Feldman wie folgt:
«Am 1. November, als ich gerade in einer TV-Talkshow mit dem Vizekanzler Robert Habeck auftreten wollte, erhielt ich den Screenshot eines Beitrags, in dem sich derselbe deutsch-jüdische Journalist, der mein Buch angegriffen hatte, öffentlich in Fantasien über meine Geiselhaft in Gaza ergoss. Da blieb mir das Herz stehen. Plötzlich war mir alles klar. Dieselben Leute, die gefordert hatten, dass jeder Moslem in Deutschland die Angriffe der Hamas verurteilen müsse, um überhaupt etwas anderes sagen zu dürfen, waren mit dem Tod von Zivilisten einverstanden, solange es sich bei den Opfern um Menschen mit gegenteiligen Ansichten handelte.
Die bedingungslose Unterstützung Israels hindert die deutsche Regierung nicht nur daran, den Tod von Zivilisten in Gaza zu verurteilen – sie erlaubt es ihr auch zu ignorieren, dass andersdenkende Juden in Deutschland den Wölfen zum Frass vorgeworfen werden wie in Israel.»
Feldman merkt an: Die Menschen, die am 7. Oktober umkamen, hätten zum linken, säkularen Teil der israelischen Gesellschaft gehört. Viele von ihnen seien Aktivisten für eine friedliche Koexistenz mit den Palästinensern gewesen. Ihr militärischer Schutz sei zugunsten der radikalen und zum Teil fundamentalistischen Siedler im Westjordanland aufgegeben worden. Und weiter:
«Für viele liberale Israelis ist das Sicherheitsversprechen des Staates für alle Juden nun als selektiv und bedingt entlarvt worden. In ähnlicher Weise wurde in Deutschland der Schutz der Juden selektiv dahingehend interpretiert, dass er nur für diejenigen gilt, die der rechtsnationalistischen Regierung Israels treu sind.»
Gemäss Feldman werden in Israel die von der Hamas festgehaltenen Geiseln von vielen als bereits verloren betrachtet – als ein notwendiges Opfer, das nur insofern von Bedeutung sei, als es zur Rechtfertigung des gewaltsamen Krieges diene, auf den die religiöse Rechte gewartet habe. Sie erklärt:
«Für israelische Nationalisten war der 7. Oktober ihr persönlicher Tag X, der Beginn der Erfüllung der eschatologischen biblischen Prophezeiung von Gog und Magog, der Beginn eines Krieges, der alle Kriege beenden und alle fremden Völker vernichten wird. Viele Angehörige der Opfer des 7. Oktober, die ein Ende dieses Kreislaufs des Grauens, des Hasses und der Gewalt gefordert haben, die die israelische Regierung angefleht haben, sich nicht in ihrem Namen zu rächen, werden in Israel nicht gehört. Und da Deutschland sich als Folge des Holocaust bedingungslos mit Israel verbündet sieht, versuchen die Mächtigen und Einflussreichen in der Gesellschaft, ähnliche Bedingungen für den öffentlichen Diskurs im eigenen Land zu schaffen.»
Feldman geht auch auf ihre Rede ein, die sie in der ZDF-Sendung «Markus Lanz» vom 1. November an Habeck richtete. Sie reagierte darin auf ein Video des Vizekanzlers, in dem er den Deutschen versicherte, dass er den Schutz jüdischen Lebens als vorrangig erachte.
Die Autorin brachte ihre Verzweiflung über die Ohnmacht angesichts der Schrecken dieses Krieges zum Ausdruck; ihre Angst vor dem Zusammenbruch unserer Zivilisation aufgrund der zunehmenden Schwächung des Wertesystems, das sie zusammenhalte; ihre Trauer über die Spaltung eines Diskurses, der die Bande zwischen Freunden, Familie und Nachbarn zerreisse; ihre Frustration über die eklatante Heuchelei, mit der kritische Stimmen zum Schweigen gebracht würden; und ihre Enttäuschung über Habeck selbst, der mit seinem unkonventionellen Weg zum politischen Erfolg ein solcher Hoffnungsträger für Wähler wie sie gewesen sei.
Mit ihren Emotionen kämpfend sagte Feldman:
«Ich bin entsetzt darüber, wie Juden im Prinzip hier nur als Juden gelten können, wenn sie das rechtskonservative Vorhaben der israelischen Regierung darstellen. Ich bin entsetzt, wie wir behandelt werden dürfen. (...) Sie erlauben es, dass Menschen mit palästinensischer Herkunft, die tolerante und friedliebende Ansichten haben, nicht zu Wort kommen, weil: Sie wollen diese Menschen hinter dem gewaltvollen Gesicht des Terroristen verstecken lassen.»
Mit Bezug auf die Holocaust-Überlebenden, mit denen Feldman aufgewachsen ist, und die Lehren, die sie aus der Literatur von Überlebenden wie Primo Levi, Jean Améry, Jorge Semprún und anderen gezogen hatte, betonte sie, wie dringend notwendig es sei zu realisieren, dass die einzige legitime Lehre aus dem Holocaust die sei, die bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle gelten zu lassen. Sie argumentierte, dass die Delegitimierung unserer Werte beginne, wenn wir sie nur unter Vorbehalt anwendeten. Sie forderte den Vizekanzler auf, zwischen Israel und den Juden zu unterscheiden, da diese nicht dasselbe seien. Die bedingungslose Loyalität zu einem Staat bedrohe viele Aspekte des jüdischen Lebens, da dieser nur einige Juden als schützenswert erachte.
In ihrem Guardian-Beitrag zeigt sich Feldman von Habeck enttäuscht. Er sei für viele Deutsche, sie eingeschlossen, ein Hoffnungsträger gewesen. Man habe in ihm «den kleinen Mann, einen von uns, einen Träumer und Geschichtenerzähler» gesehen, «jemanden, der in die Politik ging, weil er glaubte, sie verändern zu können». Stattdessen scheine die Politik ihn verändert zu haben. Er habe anscheinend «den gleichen transaktionalen Ansatz gewählt wie alle deutschen Politiker vor ihm». Feldman schliesst:
«Während rechtsextreme Parteien wie die deutsche AfD und Frankreichs Rassemblement National versuchen, Jahrzehnte der Holocaust-Leugnung und des ethnischen Hasses mit der bequemen bedingungslosen Umarmung Israels zu beschönigen (denn warum sollten Nazis ein Problem mit Juden haben, die weit weg sind?), können wir jetzt sehen, wie sehr wir uns alle getäuscht haben, als wir dachten, diese Art der moralischen Zweideutigkeit sei nicht im Herzen der liberalen Gesellschaft angekommen. Die Äusserungen der rechtsextremen AfD und der Mitte-Links-Regierung in der Bundestagsdebatte der vergangenen Woche über die historische Verantwortung des Landes gegenüber den Juden waren so ähnlich, dass ich sie beim besten Willen nicht auseinanderhalten konnte.»
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Deborah Feldman ist Autorin der Memoiren «Unorthodox: The Scandalous Rejection of My Hasidic Roots» und «Judenfetisch». Sie lebt in Berlin und besitzt die doppelte deutsche und US-amerikanische Staatsbürgerschaft.
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