Mit einem «Bürgerfest» in Hamburg wird heute der «Tag der Deutschen Einheit» offiziell gefeiert. Gerade in Ostdeutschland sehen viele Menschen auch nach 33 Jahren am 3. Oktober wenig Grund zum Feiern.
Die Bundesregierung zeichnet mit ihrem kürzlich vorgelegten «Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit» wieder einmal ein vorwiegend positives Bild. Umfragen zeigen, dass die Menschen in der Bundesrepublik das – ebenfalls wieder einmal – anders sehen.
Wenig überraschend erklärte am 27. September der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, Staatsminister Carsten Schneider:
«Die deutsche Einheit ist vollendet, aber sie ist nicht vollkommen. Der Osten ist ein prägender Teil Deutschlands, das zeigen auch wichtige Industrieansiedlungen.»
Wie «prägend» Ostdeutschland ist, zeigt unter anderem die derzeitige bundespolitische und mediale Aufregung um die hohe Zustimmung Ostdeutscher für die «Alternative für Deutschland» (AfD). Diese rechtskonservative Partei könnte bei den kommenden Landtagswahlen unter anderem in Thüringen stärkste Partei werden.
Schon der offizielle Bericht zeigt, dass es auch 33 Jahre nach der Übernahme des DDR-Gebietes durch die BRD deutliche Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland gibt. So lag laut Bundesregierung das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Osten 2022 bei 79 Prozent und das verfügbare Einkommen privater Haushalte in Ostdeutschland bei 89 Prozent (2022) im Vergleich zum Westniveau.
Laut Schneider lässt sich die Spaltung in der Bundesrepublik nicht mehr hauptsächlich zwischen West und Ost beobachten. Er verwies auch auf die strukturellen Unterschiede zwischen den Städten und den ländlichen Regionen.
Die Bundesregierung lobt in ihrem Bericht ihre eigenen Massnahmen, mit denen die Unterschiede zwischen West und Ost verringert werden sollen. Das reicht von der Erhöhung des allgemeinen Mindestlohns und der «WohngeldPlus»-Reform bis zur jährlichen Rentenanpassung zum 1. Juli 2023, wovon Ostdeutsche mehr als Westdeutsche profitieren würden.
Die Sicht der Bürger
Der Ostbeauftragte Schneider erklärte, «dass die Vollendung der Deutschen Einheit dabei nicht dem Empfinden der Bürgerinnen und Bürger von Einigkeit entspricht». Die mentale Kluft zeigen aktuelle Umfragen wie die des Forsa-Instituts für das Magazin Stern.
Danach sind Ost- und Westdeutschland aus Sicht der Bundesbürger nicht etwa zusammengewachsen, sondern weiter auseinandergerückt. 60 Prozent der Deutschen sagen laut Stern heute, dass das Trennende überwiege.
«Nur 37 Prozent meinen, dass die Menschen in Ost inzwischen weitgehend zu einem Volk zusammengewachsen sind.»
Das Umfrageinstitut habe die gleiche Frage in den vergangenen 20 Jahren immer wieder gestellt. Ähnlich negativ wie gegenwärtig seien die Einschätzungen zuletzt im Jahr 2008 ausgefallen.
Besonders schlecht ist den Angaben nach die Einheitsstimmung in Ostdeutschland:
«Für 75 Prozent überwiegt 34 Jahre nach dem Mauerfall das Trennende. Nur 21 Prozent in den neuen Ländern sehen ein Zusammenwachsen der Nation.»
Aus Sicht des Magazins ist auffällig, dass insbesondere die über 60-Jährigen eine «besonders negative Einheitsbilanz» ziehen. 69 Prozent von ihnen würden sagen, dass das Trennende überwiege.
Laut einer aktuellen Umfrage des Instituts Infratest Dimap fühlen sich derzeit immer noch 43 Prozent der Ostdeutschen als «Menschen zweiter Klasse» in der Bundesrepublik. Während danach 52 Prozent der Ostdeutschen eine Identität als «Deutscher» angaben, sehen sich immerhin 40 Prozent zuerst als «Ostdeutsche».
62 Prozent von ihnen sehen ein Zusammenwachsen zwischen West und Ost in den letzten 33 Jahren als «weniger stark» an oder sehen es «gar nicht». Zu den Ursachen für die wenig einheitliche Stimmung in Ostdeutschland zählt die soziale Lage.
Drohende Altersarmut
Dem Regierungsbericht zufolge sind die Löhne im Osten immer noch niedriger als im Westen. Danach liegt das Einkommen im Osten etwa elf Prozent unter dem im Westen. Beschäftigte im Osten verdienen pro Jahr etwa 13’000 Euro weniger.
Besonders Altersarmut droht vielen in Ostdeutschland. Darauf machte der ostdeutsche Sozialverband «Volkssolidarität» Ende September aufmerksam. Verbandspräsidentin Susanna Karawanskij verwies in einer Pressemitteilung auf Angaben des Bundesarbeitsministeriums, wonach etwa 43 Prozent der derzeit sozialversicherungspflichtigen Vollbeschäftigten eine Rente von unter 1500 Euro erhalten werden.
«Diese 1500 Euro Rente bekommt, wer 45 Jahre lange 40 Stunden in der Woche gearbeitet und dabei 20,78 Euro pro Stunde verdient hat», so Karawanskij. Sie fügte hinzu:
«Ein Grossteil der Beschäftigten schafft diese 45 Jahre Lebensarbeitszeit erst gar nicht und fast 30 Prozent arbeiten in Teilzeit unterhalb von 20 Euro Stundenlohn.»
Armut im Alter werde für Millionen von Beschäftigten «traurige Realität werden, das trifft insbesondere Menschen im Osten Deutschlands». 40 Prozent von ihnen erwarten laut der Verbandspräsidentin eine Rente von unter 1200 Euro – dieser Anteil sei fast doppelt so hoch wie in den westlichen Bundesländern.
Desaströse Politik
Der Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag Dietmar Bartsch bezeichnete laut einem ZDF-Bericht die Unterschiede zwischen West und Ost als «einbetoniert». Danach sprach er von einem «bitteren Zwischenzeugnis für die Arbeit der Bundesregierung» und erklärte, die Ostdeutschland-Politik der Ampel-Koalition sei nicht besser als die der Vorgängerregierung.
«Mit ihrer desaströsen Politik verteilt die Ampel faktisch Wahlkampfgeschenke an die AfD», erklärte Sören Pellmann, Ostbeauftragter der Linksfraktion. «33 Jahre Deutsche Einheit und der gesellschaftliche Zusammenhalt ist brüchig wie lange nicht», so Pellmann. Von einer Einheit bei Löhnen und Wirtschaftskraft sei das Land «noch immer Lichtjahre entfernt».
Laut der Forsa-Umfrage für den Stern sehen nur die Wähler der FDP die Einheit mit 48 Prozent mehrheitlich positiv (gegenüber 46 Prozent mit skeptischer Sicht). Von den Parteianhängern seien die der SPD am meisten enttäuscht: «71 Prozent von ihnen sehen ein Übergewicht des Trennenden.»
Inzwischen fordert Linksfraktionschef Bartsch einen «Ostdeutschland-Gipfel», wie Medien berichten. «Die Unzufriedenheit im Osten kocht über», begründete er seine Forderung gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Seine Partei erwarte von der Bundesregierung eine «konsequente Antiinflationspolitik, die alles unterlässt, was das Leben verteuert». Die Preise, insbesondere bei Lebensmitteln und Energie, müssten gesenkt werden.
In einem Sieben Punkte-Plan fordert die Linkspartei neben niedrigeren Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen auch eine «Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken». Seit 1990 seien rund 65’000 Kilometer Bahnnetz stillgelegt worden, 40 Prozent davon im Osten.
Bartsch fürchtet den Berichten nach nicht nur für seine Partei ein politisches Desaster, wenn im nächsten Jahr in Sachsen, Thüringen und Brandenburg die Landtage neu gewählt werden. Überall liegt die AfD in Umfragen in Führung.
Laut dem ARD-Deutschland Trend Anfang August hat die AfD bundesweit inzwischen 21 Prozent in der «Sonntagsfrage zur Bundestagswahl» erreicht und liegt damit hinter der CDU (27 Prozent) auf Platz 2. In den Umfragen in den drei ostdeutschen Bundesländern, deren Bürger nächstes Jahr wählen werden, liegt die AfD mit jeweils über 30 Prozent vorn.
Die Regierungsparteien im Bund und in den Ländern sind weit abgeschlagen und dürften von den ostdeutschen Wählern für ihre Politik nicht nur in Sachen Einheit abgestraft werden. Das führt derzeit zu erneuten Beschreibungen der Ostdeutschen als weitgehend «offen für rechtsextreme Ansichten», «Fans von Diktaturen» und «sehnsüchtig nach dem autoritären Staat».
Missglückte Transformation
Immer wieder und immer noch muss die DDR als Quelle für die Stimmungen in Ostdeutschland herhalten. «Ich glaube, sie haben eher wenig mit der DDR zu tun», erklärte der Soziologe Elmar Brähler Im Juli in einem Interview mit der Berliner Zeitung zu den extremen politischen Einstellungen in Ostdeutschland.
Dagegen hätten sie «viel mit der missglückten Transformation nach der Wiedervereinigung» zu tun, so Brähler. Der von ihm geleitete Forschungsverbund «DDR-Vergangenheit und psychische Gesundheit», habe herausgefunden, «dass Kindheitstraumata im Osten seltener sind als im Westen».
Brähler erinnerte an die andere soziale Struktur in der DDR und die Folgen der Deindustrialisierung Ostdeutschlands ab 1990:
«Es gab und gibt keine grossen Erbschaften, kein Vermögen, weniger Immobilienbesitz, das Einkommen im Osten war und ist geringer. Thüringen wurde zu einem Niedriglohnland, 44 Prozent der Menschen im Kreis Sonneberg bekommen den Mindestlohn.»
Brähler hält die These vom gesellschaftlichen Rechtsruck für Unsinn. Auf die Frage nach den Ursachen für den Frust in Ostdeutschland sagte er:
«Es ist mir sehr wichtig, dass der Osten in den vergangenen Jahrzehnten nicht rechter geworden ist.»
Rechte Parteien wie die AfD würden von der sozialen Lage und dem Versagen der anderen Parteien profitieren.
«Auch wird die soziale Frage nicht richtig behandelt. Früher war sie das Markenzeichen der SPD. Heute fehlt etwas, ein Angebot, das kann die AfD ausnutzen. Ihr Potenzial liegt bei den Abgehängten.»
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