Zwei alte Männer in den Ruinen Berlins im Mai 1945 – ein Bild, das sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Für Jacques Pilet ist es weit mehr als ein Symbol: Es ist eine Mahnung, dass die Katastrophen des 20. Jahrhunderts bis heute nachwirken – auch wenn sie im politischen Tagesgeschäft gern verdrängt werden. Das Bild ziert einen Artikel, den der Westschweizer Journalist diese Woche auf der Plattform Bon pour la tête publizierte (hier in französischer Sprache).
Wenn der künftige deutsche Kanzler darüber nachdenkt, Marschflugkörper vom Typ Taurus an die Ukraine zu liefern – Raketen, die theoretisch auch Moskau erreichen könnten –, sei dies für Russland eine klare Provokation.
Pilet warnt: «Vergessen sie die Traumata der Vergangenheit, spielen Verantwortungsträger mit dem Feuer.»
Noch bedenklicher erscheint ihm die Rhetorik aus Brüssel. Die Präsidentin der EU-Kommission sowie die Außenbeauftragte verurteilen scharf die Teilnahme einzelner Staaten an der russischen Gedenkveranstaltung zum Sieg über Nazi-Deutschland. Dabei sei gerade diese Erinnerung entscheidend – die Sowjetunion, so Pilet, habe mit den westlichen Alliierten das Dritte Reich besiegt, unter dem enormen Opfer von 25 Millionen Toten. Dass man das nicht mehr würdigen wolle, sei «pathetisch und gefährlich».
«Sich übermäßig zu bewaffnen, heißt nicht, sich zu schützen – es heißt, sich früher oder später auf den Krieg vorzubereiten», zitiert Pilet mit Nachdruck Papst Franziskus, der kurz vor seinem Tod mahnte: Keine echte Friedenslösung ohne Abrüstung.
Vor allem das Verhalten Deutschlands sieht Pilet mit Sorge. Verteidigungsminister Boris Pistorius forderte unlängst, die Bevölkerung müsse wieder «kriegstüchtig» werden – ein Begriff, den einst NS-Propagandaminister Goebbels verwendete. Auch wenn die historischen Kontexte völlig unterschiedlich seien, sei «der Tonfall beunruhigend».
Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU und einstiger Manager bei BlackRock, versuche indes, innenpolitische Schwächen mit außenpolitischen Bedrohungsszenarien zu kompensieren. In seiner Familie liegt ebenfalls eine belastete Vergangenheit: Der Großvater trat 1938 der NSDAP bei, der Vater war vier Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
«Nicht sicher, ob Merz die Wirkung seiner Tiraden gegen Russland auf den einstigen Partner im Osten richtig einschätzt», meint Pilet kritisch.
Die EU-Außenministerin Kaja Kallas wiederum ist persönlich von der Geschichte gezeichnet: Ihre Mutter wurde 1940 als Baby nach Sibirien deportiert. Kallas’ familiärer Hintergrund – zwischen Kollaboration mit Nazis und Sowjets – erklärt womöglich ihre scharfen Positionen gegenüber Moskau. Pilet fragt: «Ist das hilfreich, wenn Europa Verhandlungen zur Beendigung des Kriegs anstrebt?»
Besonders komplex sei die Lage in der Ukraine selbst. Während im westlichen Galizien, rund um Lemberg (ukrainisch: Lviw, polnisch: Lwow), ultranationalistische Tendenzen aus der Zeit des NS-Kollaborateurs Stepan Bandera noch lebendig seien, leide der russischsprachige Osten unter langjährigen Konflikten und Vernachlässigung.
«Man kann die illegale russische Invasion nicht rechtfertigen – aber man muss verstehen», so Pilet.
Doch genau das fällt schwer in einem Europa, das sich zunehmend in simplifizierte Narrative flüchtet. Selbst Staatsführer wie Macron oder Trump hätten sich in der Komplexität des Konflikts verkalkuliert – sei es durch unrealistische Friedensinitiativen oder machtpolitische Fehleinschätzungen.
Gleichzeitig regt sich im Osten Europas Unmut. Während in Brüssel Milliarden nach Kiew fließen, werden in Ländern wie Polen, Rumänien oder Tschechien kritische Stimmen lauter. Luxusautos ukrainischer Kriegsflüchtlinge sorgen für Unverständnis, die Inflation trifft die einfachen Bürger hart, der politische Rückhalt beginnt zu bröckeln.
«Le pacifisme est mort avant le pape», schreibt Pilet resigniert – der Pazifismus sei gestorben, noch bevor der Papst starb.
Früher war Ostern ein Moment der Friedensproteste, heute bleiben die Straßen leer. In Bern demonstrierten zu Ostern weniger als tausend Menschen für den Frieden – in Deutschland, Frankreich und anderswo: nichts.
Doch Pilet ist überzeugt: Die Wirklichkeit werde Europa bald zwingen, sich an die mahnenden Worte des Papstes zu erinnern.
Oder aber, so warnt er mit düsterer Metapher, «wir marschieren in eine neue Apokalypse – wie Schlafwandler im Sommer 1914.»