Die Fraktion der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag löst sich auf. Dieser in der bundesdeutschen Geschichte einmalige Vorgang hat mit einem anderen Vorgang zu tun: der Gründung einer neuen Partei. Das plant eine Gruppe um die frühere Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht.
Ende Oktober sind zehn Bundestagsabgeordnete aus der Fraktion der Linkspartei ausgetreten. Sie wollen Wagenknecht unterstützen. Zu ihnen gehört Andrej Hunko, der seit 2009 im Bundestag sitzt. Im Interview mit dem Schweizer Magazin Zeitgeschehen im Fokus hat er diesen Schritt begründet.
Hunko erklärt seinen Austritt mit einem «längeren Entfremdungsprozess gegenüber der Partei, den die meisten von uns schon durchlaufen haben». Er verweist unter anderem auf die seit Jahren sinkende Wählerzustimmung für die Partei Die Linke. Deren Führung habe sich geweigert, sich mit den Ursachen der Entwicklung zu beschäftigen.
Er war selbst sieben Jahre Mitglied des Parteivorstandes. Die Linkspartei habe sich «immer mehr an ein junges, urbanes, aktivistisches Milieu gewandt, was aber nicht mehr die Vertretung weiter gesellschaftlicher Kreise darstellte».
Für ihn kippte es nach seinen Worten, als die Spitze der Linkspartei sich öffentlich gegen die grosse Friedensdemo am 25. Februar dieses Jahres in Berlin wandte. Zu dieser hatte Wagenknecht gemeinsam mit der Feministin Alice Schwarzer und anderen Persönlichkeiten aufgerufen, die zuvor das «Manifest für Frieden» veröffentlicht hatten.
Für Hunko handelte es sich um die «seit Jahrzehnten wirkungsvollste Anti-Kriegsaktion in Deutschland. Doch seine bisherige Partei «hatte nichts Besseres zu tun, als sich in den Chor der Verunglimpfer einzureihen und darauf zu fokussieren, dass am Rande der Kundgebung AfD-Wähler dabei sein könnten und damit diese Demonstration nicht sauber sei». Das sei für ihn der endgültige Bruch gewesen, der sich aber schon vorher angedeutet habe.
Die Linkspartei habe sich nicht nur in der Friedensfrage an die «herrschenden Narrative» angepasst, «deren soziales oder friedlicheres Feigenblatt man sein will», kritisiert der Abgeordnete. Das habe sich beim Ukraine-Krieg ebenso wie bei der Corona-Krise gezeigt. «Das kritische Potential ist aus meiner Sicht in dieser Partei schon lange verloren gegangen.»
Er bescheinigt der Partei Die Linke:
«Man hat kein Verständnis für die Tiefe der Gesellschaft. Man lebt in einer Blase von Aktivisten mit einem sehr gesinnungsethisch geprägten Verständnis von politischen Vorgängen. Es fehlt die Weite des Blicks und die kritische Distanz zum Geschehen.»
Bei zahlreichen gesellschaftlichen Themen reiche es aus, dass sich auch die AfD damit beschäftigt, und schon würde sich die Linkspartei «aus dem Staub» machen. «Das Thema ist dann vergiftet, man will die Finger davon lassen.» Die Partei entferne sich so von den Oppositionsthemen und lehne sich bei den Etablierten an. Die Folge laut Hunko: Sie wird immer bedeutungsloser.
«Das geht, bildlich gesprochen, so weit, dass die Rechten sagen: ‹Der Himmel ist blau.› Dann sagt die Linke: ‹Nein, der Himmel ist grün.› Die Menschen schauen nach oben und sagen: ‹Das stimmt doch gar nicht, der Himmel ist doch blau.›»
Der anderen Seite wird die Deutungshoheit überlassen, zu bestimmen, was politisch unternommen werden kann, bedauert der Politiker. Zu viele in der Linkspartei würden sich mehr mit Befindlichkeiten beschäftigen, statt mit tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Problemen. Weil alles, was von der AfD kommt, abgelehnt werde, sei die Oppositionsfähigkeit verloren gegangen.
Hunko macht eine «Repräsentationslücke» in Deutschland aus: Immer mehr Menschen fühlen sich demnach nicht mehr von den etablierten Parteien vertreten, insbesondere nicht von der Ampel-Regierung. Die ganze Unzufriedenheit wende sich derzeit in Richtung AfD.
«Es braucht eine seriöse Opposition für die Themen wie soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Vernunft, Frieden und gegen einen immer stärker eingeschränkten Meinungsdiskurs. Das sind die vier Kernpunkte.»
Er verweist auf ein Wählerpotenzial für die neue Partei um Wagenknecht zwischen 12 und 14 Prozent. Das hätten Umfragen ergeben. Allerdings sei das durch die grosse mediale Aufmerksamkeit bedingt und noch «mit grosser Vorsicht» zu geniessen.
Nach der angekündigten Parteigründung im Januar 2024 soll die Wahl zum EU-Parlament im Juni nächsten Jahres der erste Testfall sein. Bis dahin sollen Strukturen aufgebaut werden und die Partei in allen Regionen Deutschlands vertreten sein.
Aus Sicht des Abgeordneten könnten «glaubwürdige Personen» die politische Repräsentationskrise aufbrechen. Wagenknecht zähle dazu, weil sie sich den herrschenden Narrativen nicht beuge. Zudem sei sie in der Lage, bestehende Probleme mit neuen Begriffen zu beschreiben.
Das gilt seiner Meinung nach auch für das Etikett «linkskonservativ», das die neuen Partei kennzeichnen soll. Hunko findet:
«Ich denke, die Zeit ist reif für ein Projekt, wie es hier geplant ist. Es geht darum, mit einer glaubwürdigen Politik, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.»
Das soll vor allem mit den Themen soziale Gerechtigkeit und Frieden geschehen, wie er erklärt. Darauf würden viele weitere Themen aufbauen. In seiner alten Partei habe sich das in einem «Mosaikpluralismus» aufgelöst.
Ablehnung von Krieg sei eine der Wurzeln linker Politik in Deutschland, meint Hunko und erinnert an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die soziale Frage und der Frieden seien für eine linke Partei «immer elementar» gewesen. Es sei «historisch völlig verdreht», wenn heute Friedensdemonstrationen als «rechts» diffamiert werden.
«Heute wird alles komplett auf den Kopf gestellt. Man ist ein Faschist, wenn man für den Frieden ist. Die Begriffe sind ihrer Substanz entleert oder ins Gegenteil verkehrt worden.»
Es gehe um die richtige Wortwahl für die heutigen Probleme, um die inhaltliche Substanz auszudrücken. Dafür sei ein offener Dialog notwendig und damit könne «das freie Denken neu beginnen».
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