Nachdem Jewgenij Prigoschin, Chef der Wagner-Söldner, einen plötzlichen Aufstand gegen die russische Militärführung angezettelt hatte, waren die Reaktionen eindeutig: Die Befürworter des Stellvertreterkriegs in der Ukraine sagten schnell die bevorstehende Implosion ihrer Kreml-Feinde voraus.
«Russland schlittert in etwas hinein, das man nur als Bürgerkrieg bezeichnen kann», schrieb Anne Applebaum in The Atlantic. (...) Der vom Westen ausgerufene «Bürgerkrieg» endete nicht nur innerhalb weniger Stunden nach diesen Äusserungen. Er ging auch ohne Schüsse über die Bühne.
Prigoschin behauptet, er habe nie vorgehabt, Putin zu stürzen. Seine Absicht sei es gewesen, gegen die sich abzeichnende Unterstellung seiner Kräfte unter das russische Militär zu protestieren.
Die Eile, Putins Todesurteil zu unterzeichnen, spiegelt den Wunsch nach einem Regimewechsel in Moskau wider. Dieser Wunsch ist in der US-Politik omnipräsent.
Das ist schon deutlich geworden, als Joe Biden nach der russischen Invasion erklärte, dass Putin «nicht an der Macht bleiben kann». Dazu kommt mehr und mehr die Erkenntnis, dass die seit langem geplante «Gegenoffensive» der Ukraine nicht den Erwartungen gerecht wird.
«Die ukrainische Gegenoffensive ist weniger erfolgreich und die russischen Streitkräfte zeigen mehr Kompetenz, als westliche Einschätzungen erwarten», berichtet CNN unter Berufung auf US- und NATO-Quellen. (...)
Die ukrainische Regierung hat in der Tat einen möglichen Plan für eine beispiellose Katastrophe angedeutet. Westliche Beamte räumen zähneknirschend das bisherige Scheitern der Gegenoffensive ein. Gleichzeitig beschuldigt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski Russland, die Sprengung des Kernkraftwerks Saporischschja zu planen.
Die Ukraine «hat Informationen erhalten, wonach Russland das Szenario eines terroristischen Akts im Kernkraftwerk Saporischschja in Erwägung zieht – einen terroristischen Akt mit Freisetzung von Strahlung», so Selenski.
Kyrylo Budanov, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, zufolge sei der angebliche russische Plan «ausgearbeitet und genehmigt» worden und könnte «in wenigen Minuten realisiert» werden.
Die Behauptung, dass Russland die Zerstörung des Kraftwerks in Betracht ziehe, entbehrt jeglicher Logik. Dies, weil Russland rund 20 Prozent des ukrainischen Hoheitsgebiets kontrolliert und die ukrainische Offensive bisher erfolgreich abwehren konnte.
Vor diesem Hintergrund hat Russland kein Motiv, einen derart leichtsinnigen und gefährlichen Angriff durchzuführen. Es kommt hinzu: Damit würde Russland genau das Kernkraftwerk zerstören, das seine Streitkräfte derzeit kontrollieren.
Seit Monaten beschuldigen die ukrainischen Streitkräfte Russland, die Anlage zu beschiessen. Diese Behauptung wird von den US-Medien pflichtbewusst nachgeplappert.
Die Propagandamauer der NATO hat schliesslich die Londoner Times im April durchbrochen. Sie berichtete, dass Kiew zwar nie zugegeben habe, Europas grösstes Kernkraftwerk angegriffen zu haben.
Allerdings hätten die ukrainischen Streitkräfte endlich «Einzelheiten über die hochgefährliche Operation zur Bergung der Anlage enthüllt». Die neue «Warnung» der ukrainischen Regierung ist im schlimmsten Fall ein Akt der Projektion zur Vorbereitung eines Angriffs unter falscher Flagge.
Im besten Fall – und das ist meiner Meinung nach plausibler – blufft die Selenski-Regierung, um mehr militärische Unterstützung von ihren NATO-Gönnern zu erhalten und von ihren Verlusten auf dem Schlachtfeld abzulenken.
Zweifellos ist klar: Die Selenskis Clique ist gegen Verhandlungen – zumindest vermittelt sie dieses Bild gegenüber der Öffentlichkeit. Andriy Yermak, Selenskis Stabschef, erklärte kürzlich gegenüber dem Wall Street Journal, dass er «gegen formelle Diplomatie» sei.
Stattdessen setze er auf die «sanfte Macht», die sich darauf konzentriere, «Prominente» in die Ukraine zu locken. (...) Dies sei wichtig, um globale Unterstützung zu erhalten. (...) Im Journal heisst es:
«Yermak sagt, dass die Bemühungen vor dem Krieg, eine Einigung mit Russland zu erzielen, durch ein 2015 unter westlichem Druck geschlossenes Abkommen behindert wurden, das Moskau die Kontrolle über Teile der Ukraine übertrug.»
Dieses Abkommen bezieht sich auf die Minsker Vereinbarungen, die international anerkannte Formel zur Beendigung des Donbas-Krieges nach 2014.
Was die Umsetzung des Minsker Abkommens betrifft, so ging der entscheidende «westliche Druck» von einem überparteilichen politischen Establishment in den USA aus. Dieses wehrte sich im Bündnis mit der ukrainischen extremen Rechten erbittert dagegen, dieses umzusetzen.
Die von der Zeitschrift wiedergegebene Meinung von Yermak unterstreicht diesen Standpunkt erneut.
Seiner Ansicht nach wurden die Bemühungen, «einen Deal mit Russland zu machen» und eine Invasion zu vermeiden, durch die Weigerung der Ukraine behindert, das Friedensabkommen umzusetzen (...). Die zusätzliche Erklärung, dass Minsk «Moskau die Kontrolle über Teile der Ukraine» gegeben hätte, ist offenkundig falsch.
Hätte irgendeine ukrainische Regierung ein solches Abkommen unterzeichnet? In Wirklichkeit hätte Minsk die Ukraine effektiv (...) neutral gemacht. Dies entsprach laut Umfragen dem Wunsch einer Mehrheit.
Ausserdem erkannte das Abkommen die Rechte der russischstämmigen Bevölkerung an. Ein Tatbestand, der wiederum für die rechtsextremen Kräfte in der Ukraine als absolutes No-Go angesehen wurde.
Die verpasste Gelegenheit zur Diplomatie reicht bis in die Zeit nach der Invasion, wie auch jetzt wieder deutlich wurde. Putin legte bei einem kürzlichen Treffen mit afrikanischen Staats- und Regierungschefs ein Dokument vor, das angeblich ein Friedensabkommen enthielt, das von Selenskis Regierung im vergangenen April unterzeichnet worden sei.
Das Dokument, dessen Echtheit von niemandem bestritten wurde, ergänzt eine Reihe von Beweisen, die allesamt aus NATO- und ukrainischen Quellen stammen: Nämlich, dass die Ukraine und Russland einen Pakt geschlossen haben, der den Krieg in den ersten Wochen hätte beenden können.
Die Vereinbarung wurde jedoch vom damaligen britischen Premierminister Boris Johnson – mit mutmasslicher Unterstützung der USA – sabotiert.
Diese Episode untergräbt das vorherrschende Narrativ, wonach der «Hitlerianer» Putin in die Ukraine einmarschiert ist, um die Ukraine von der Landkarte zu tilgen. Deshalb wurde die Geschichte von den etablierten westlichen Medien ordnungsgemäss unterdrückt. (...)
Wer von der Regierung Biden erwartet, dass sie die Rhetorik dämpft und sich auf Verhandlungen einlässt, muss mindestens bis nach dem Präsidentschaftswahlkampf 2024 warten.
«Auf dem Weg in die Wiederwahlkampagne im nächsten Jahr», schreibt die Washington Post, «braucht Biden einen grossen Sieg auf dem Schlachtfeld. So kann er zeigen, dass seine uneingeschränkte Unterstützung für die Ukraine die globale Führungsrolle der USA gestärkt (...) und den umsichtigen Einsatz amerikanischer militärischer Stärke im Ausland demonstriert hat».
Man beachte: Nichts von dieser angeblichen «Unterstützung für die Ukraine» hat etwas mit der Verteidigung der Ukraine zu tun. (...)
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Der folgende Beitrag ist zuerst auf Englisch auf Aaron Matés Substack erschienen.
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