Mehrere Jahre versperrte das Corona-Regime in Deutschland den freien Zutritt zur Kultur. Doch an einigen Orten entwickelte sich Darstellende Kunst trotzdem oder gerade deswegen weiter, wie an einer Ausfallstrasse in Tübingen in Baden-Württemberg. Im Keller eines unscheinbaren Gebäudes, das einst zu einer Kaserne gehörte, befinden sich Proberäume, im Dachgeschoss Tanzschulen und dazwischen eine Schreinerei.
«Manchmal haben wir nur Kerzen angemacht. Wir hatten Angst, dass uns jemand denunziert», erinnert sich Evelin Sauer an die Zeit zurück, als Konzertbesuche oder ein Treffen mit mehreren Freunden verboten waren. Gemeinsam mit ihrem Mann und 20 Mitarbeitern betreibt sie die Schreinerei «Holz + Form». Im Erdgeschoss liegt die Werkstatt, in der ersten Etage die Ausstellungsräume mit dem sogenannten Salon, in den bis zu 50 Besucher passen und wo sich ein Klavierflügel befindet. Mit einem Kopfschütteln schildert sie das beklemmende Gefühl, als sie während einer Aufführung raus ins dunkle Treppenhaus ging und auf einen jungen Mann mit Fahrrad über der Schulter traf, der aber selbst zusammenzuckte, weil er zu einer illegalen Veranstaltung eine Etage höher ging.
Heute gebe es keinen Weg mehr zurück zu der Zeit vor Corona, so die 57-jährige Unternehmerin. Allerdings sei ihr wichtig gewesen, nachdem mehrere Jahre nur Eingeweihte zu ihnen fanden, ihr kulturelles Angebot einem grösseren Kreis zu öffnen. Und so nahm sie den Auftritt der Musiker Alexa Rodrian und Jens Fischer Rodrian zum Anlass, alle ihre Kunden einzuladen. Aber was gab es für Reaktionen? «Eine Ärztin zum Beispiel bedankte sich, dass sie in diese Szene hineingucken durfte. Sie war begeistert von der Lebendigkeit», erzählt Sauer.
Wer schon mal in den Genuss einer der vielen Veranstaltungen der Freiheits- und Friedensbewegung gekommen ist, weiss, dass im Gegensatz zu herkömmlichen Theatern das Publikum am Ende der Aufführung nicht den Saal verlässt. «Diese Energie, dieser neue Schwung, den die Künstler weitergeben, ist so belebend und inspirierend – danach findet immer noch ein super intensiver Austausch statt», freut sich die Unternehmerin, die wegen des Corona-Regimes ihre Mitgliedschaft in einem freien Tanztheater beenden musste und ihre eigene künstlerische Tätigkeit sehr vermisst. Jetzt sieht sie sich als «Pionierin sowie als Botschafterin für die Idee einer Menschheitsfamilie».
Selbst etwas betragen zu können, selbst wirksam zu sein, sei der grösste Unterschied zu früher, als sie und ihr Mann nur im Publikum sassen. Anfangs der Corona-Krise habe sie das lokale freie Theater noch finanziell unterstützt. Da von den Theaterleuten jedoch keine Kritik an den Schliessungen gekommen sei, überlegte das Schreiner-Ehepaar «welche Summe wir bereit sind, an Strafen zu zahlen. Und gar nichts ist passiert».
Ähnlich beschreibt es der Berliner Rapper Bustek auf Manova:
«Wer sich nicht instrumentalisieren lässt, dem wird seine Kunst und das Äussern seiner Meinung immer mehr erschwert und Künstler wie ich werden auf die verschiedensten Arten und durch die verschiedensten Institutionen mundtot gemacht. Was mich wieder zu den Fragen bringt, was für ein Mensch möchte ich sein?! Was bin ich bereit zu riskieren?! Und was wäre die Konsequenz, wenn ich mich irren sollte!»
Mit viel Mut entstand in einer Schreinerei in Tübingen ein geschützter Raum der Freiheit, wo alle ein bis zwei Monate Künstler auftreten, die Frieden, Freiheit und Demokratie unterstützen oder wirklich kritisches Kabarett machen, wie zum Beispiel Uli Masuth, der im Juni mit dem Programm «Lügen und andere Wahrheiten» in der Schreinerei zu sehen sein wird.
Neue kreative Netzwerke und Festivals
Die folgende Definition für «Cancel Culture» stammt aus der Schweizer Tageszeitung Blick:
«Die Praxis, unliebsamen Meinungen oder Menschen keine Plattform zu geben und Organisatoren und Institutionen dazu zu nötigen, sie von Veranstaltungen auszuladen oder sie zu boykottieren oder ihnen zu kündigen.»
Inzwischen werden aber immer mehr Menschen gerade durch abstruse Texte in ihren Regionalblättern auf kritische Künstler aufmerksam – wer will denn in ein Kabarett gehen, das ohne Kritik an Regierung, Kirchen oder Medien auskommt? Das weiss auch Almut Masuth, seit 25 Jahren Managerin des Kabarettisten Uli Masuth: «Das Jahr 2024 läuft richtig gut, wie früher. Auch wenn mein Mann inzwischen in aussergewöhnlichen Spielstätten in ganz Deutschland auftritt.» Dazu gehört nicht nur die Schreinerei der Sauers, sondern auch eine Bäckerei, eine Autowerkstatt oder grosse Wohnzimmer. Die Gagen seien oft höher als früher auf kleinen Bühnen, berichtet Almut Masuth. Und neu sei auch, dass ihr Mann vor 1’500 Leuten auftritt, wie es bei einem Friedensfestival in Rosenheim der Fall war.
«Viele Menschen wollen ihr Geld nicht mehr Institutionen geben, von denen sie einst ausgegrenzt wurden, und organisieren private Events. Oft mieten sie dafür sogar grosse Zelte und reissen sich ein Bein aus, um Künstler einzuladen, erzählt sie weiter. Über die Jahre seien so viele Kontakte entstanden, ein «Netzwerk aus wunderbaren Menschen, die mit Herz dahinterstehen. Wir alle wurden als Kritiker des Corona-Regimes ausgegrenzt und jetzt, weil wir uns für Frieden einsetzen».
Allerdings sind laut Almut Masuth viele alte Auftrittsstätten weggefallen, weil sie keinen Ärger mit dem Bürgermeister wollen. Einen Fall dieser absurden Zensur über Bande, der Uli Masuth betraf, schildert Eugen Zentner auf Apolut, er schreibt: «Dort [in Ettlingen] hatte das Regionalblatt Badische Neueste Nachrichten den Kulturamtsleiter dazu veranlasst, einen lange geplanten Auftritt Masuths am 24. Februar 2024 zu ‹canceln›, wie es in der Pressemitteilung hiess. ‹Für diese Art des Kabaretts ist Ettlingen keine Adresse›, so die damalige Begründung.»
Da die «Cancel Culture» auch viele Vorträge betrifft, kam Uli Masuth die Idee für das Festival «Musik & Wort» in Weimar, das diesen Oktober zum zweiten Mal stattfindet. Über drei Tage treten 43 Künstler und Redner auf, das Programm liest sich wie das Who-is-Who der Freiheits- und Demokratiebewegung.
«Der Zusammenhalt und die Solidarität begeistern», erzählt Almut Masuth. «So wie im ersten Jahr kommen alle ohne fix zugesagte Gage, selbst Redner, die sonst in grossen Hallen sprechen. Und manche Mitwirkende übernehmen die Hotelkosten für andere. Wenn etwas überbleibt, wird es gleichmässig auf alle verteilt. 2023 bekam jeder 500 Euro raus.» Und die Managerin weiter:
«Wir wollen nicht vom Staat gesponsert werden. Mein Mann und ich haben gesehen, dass, wenn wir etwas wagen und dabei vertrauen, wir das auch schaffen. Es kommen so viele gute Seiten zum Vorschein.»
Krasser Guru sucht freie Räume
In jüngster Zeit sind nicht nur neue Spielstätten, künstlerische Netzwerke und Festivals entstanden, sondern auch Dienste rund um den demokratischen Kulturbetrieb. Wie zum Beispiel die Ticket-Plattform «Krasser Guru», gegründet von Hardy Groeneveld und Björn Gschwendtner. Sie gingen damit im Juli 2023 an den Start und haben bisher knapp 20’000 Karten für rund 150 Veranstaltungen vermittelt. Aber warum eigentlich Guru? «Das hat nichts damit zu tun, dass wir die Redner und Künstler alle für Gurus halten. Die Domain fand ich witzig, der Name gefiel uns und lässt sich leicht aussprechen», erzählt Groeneveld.
Auch bei Krasser Guru führte ein Fall von «Cancel Culture» schliesslich zur unabhängigen Lösung: Eine andere Plattform stoppte ohne Begründung den Kartenverkauf für einen Vortrag von Kayvan Soufi-Siavash. Bereits davor hatte die Stadt Dortmund den Vertrag für einen Auftritt des Historikers Daniele Ganser in der Westfalenhalle einseitig gekündigt. Obwohl Hallen in öffentlicher Hand prinzipiell für Veranstaltungen aller Art zur Verfügung stehen müssen. Der Veranstalter klagte im Eilverfahren, und Dortmund verlor in erster und zweiter Instanz: Denn wie das Oberverwaltungsgericht Nordrheinwestfalen schliesslich bestätigte, muss sich auch Dortmund bei der Vermietung ihrer Hallen an die Meinungsfreiheit und den Gleichbehandlungsgrundsatz halten.
Inzwischen gebe es keine Kündigungen oder ausgesprochene Verbote mehr für Auftritte von kritischen Rednern oder Künstlern in öffentlichen Hallen, sagt Groeneveld, aber durch eine Einstufung als «Hochrisiko-Event» so hohe Auflagen, zum Beispiel für teure Security, dass sich die Events nicht lohnen würden. Und oft bekomme er als Antwort, dass angeblich keine Termine mehr verfügbar wären. Krasser Guru als Veranstalter sucht daher noch freie Räume ab 100 Personen – Informationen einfach an [email protected].
Rückwärtsgewandt: Das deutsche Corona-Regime für Kunst und Kultur
Geschlossenes Kino im Herbst 2020 in Berlin; Foto: Sophia-Maria Antonulas
Im Frühjahr 2020 mussten alle Theater, Opern und Konzerthäuser komplett schliessen, dann durften sie wieder öffnen, aber nur eine geringe Zahl an maskierten Menschen einlassen, um im Herbst wieder komplett zuzusperren. Ab März 2021 mussten sich Kulturinteressierte trotz Maske testen lassen, und Künstler mussten weiterhin vor wenigen Zuschauern spielen – in Bayern zum Beispiel war nur 25 Prozent Auslastung gestattet. Ab Herbst 2021 und bis Ende Februar 2022 war der Nachweis mehrerer sogenannter Corona-Impfungen vorgeschrieben, um analog Kultur zu erleben. In Städten wie Hamburg sah das Corona-Regime sogar vor, dass, wer in den Genuss einer solchen Aufführung kommen wollte, nachweisen musste, zweimal mit mRNA gespritzt und zusätzlich negativ getestet zu sein, erst eine dritte Spritze befreite von der Corona-Testpflicht.
Förderprogramm: angebiedert, aber finanziert
Schaufenster eines Theaters im März 2024; Foto: Sophia-Maria Antonulas
Einfach zu schliessen zahlte sich für Spielstätten zwar nicht kulturell, aber zumindest für einige finanziell aus. Das ergab Anfang 2024 eine Recherche zum deutschlandweiten Förderprogramm «Neustart Kultur», das mit zwei Milliarden Euro dotiert war. Auf Deutschlandfunk Kultur heisst es dazu:
«Bilanzen (...) legen nahe, dass diese und ähnliche Orte ‹überfördert› wurden: Sie haben während der Pandemie so viel staatliches Geld erhalten, dass sie trotz fehlendem Publikum teils deutlich höhere Gewinne als in den Vorjahren verzeichneten.»
Aufbruch: Zufluchtsorte der Kunstfreiheit
Beim Corona-Theater spielten weder alle Kunst- und Kulturinteressierten noch Künstler mit. Und so fanden schon während des Corona-Regimes verbotene Musik- und Theateraufführungen an den ungewöhnlichsten Orten statt, allerdings unter der ständigen Bedrohung, von Ordnungsamt und Polizei gestürmt zu werden. Die mutigen Betreiber dieser Zufluchtsorte setzten alles aufs Spiel, und manch einer bekam deshalb hohe Geldstrafen oder verlor seinen Pachtvertrag.
Gleichzeitig liegt genau in dieser repressiven Zeit der Anfang einer neuen lebendigen Kunst- und Kulturszene, die sich immer mehr vernetzt und eigene Ressourcen entwickelt. Die kritischen Künstler, die dafür ausgegrenzt werden, dass sie sich für die Wahrung der Grundrechte selbst in Krisenzeiten und für Frieden statt Krieg einsetzen oder weil sie Mainstream-Narrative hinterfragen, finden trotz «Cancel Culture» immer mehr neue Freiräume und Verbündete.
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