Wie würden Sie die Postcoronagesellschaft charakterisieren?
Ihre Frage beinhaltet ja schon den Sprengstoff, der im Ausdruck «Postcoronagesellschaft» liegt. Kann das, was uns seit etwa fünf Jahren geschieht, was wir aber auch haben geschehen lassen, als zeitgeschichtlich einzigartiges Phänomen verstanden werden? Ich würde dies bejahen, auch wenn «Corona» heute weitestgehend aus den Schlagzeilen, ja aus dem herrschenden Diskurs überhaupt, verschwunden ist. «Corona» spielt keine Rolle mehr, was mich geradezu mit Grauen erfüllt: 70 Prozent der Deutschen sind der Ansicht, dass dieser vermeintliche Schicksalsschlag durch Covid-Viren überwunden sei – und im Rückblick das Verhalten und die Maßnahmen zur Eindämmung der «Pandemie» weitestgehend gerechtfertigt wären.
Gerade dieses Vergessenwollen und Verdrängen bestätigt aber das Ausmaß dieser «Pandemie» und der Folgewirkungen bis heute. Einige Kritiker sprechen ja von einem Zivilisationsbruch – ich möchte da von einem «Point of no return» sprechen, einem Wendepunkt, der die Axt an die Grundfesten unseres menschlichen Daseins legte. Nicht nur psychologisch, sondern existentiell und anthropologisch. Durch «Corona» wurden wir dazu gedrängt, uns elementare Fragen zu stellen: Wer sind wir als Menschen, wohin steuern wir? Aber auch: Wie ist heute Macht gestrickt, wie funktioniert seither Öffentlichkeit und – für mich ganz wichtig: Welches Verhältnis haben wir zu unserem Körper?
Um auf die erste Frage zurückzukommen: Die Postcoronagesellschaft stellt in der Gesellschaftsgeschichte einen Wendepunkt dar. Der Status und der Wert des Menschen wurden neu justiert, ebenso das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Individuum. Es wurden die Verhältnisse – um hier eine Metapher von Karl Marx aufzugreifen – zum Tanzen gebracht, politische Muster wie links und rechts geradezu höhnisch unterlaufen.
In diesem Klima eines mentalitätsgeschichtlichen Wandels, geprägt von Beliebigkeit und emotionalen Verhärtungen, leben wir heute. Deshalb erschreckt umso mehr, dass «Corona» verdrängt wird und man sich wieder in einer bräsigen Normalität einfindet.
Die sogenannte Zivilgesellschaft marschierte in Deutschland gegen eine Oppositionspartei. Wie konnte es zu dieser Verbrüderung zwischen System und Protestbewegung kommen?
Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne einen Rückblick auf die 1970er Jahre zu werfen. Damals entstand in der Nachhut von 1968 und infolge zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Bewegungen ein spezifisches Milieu, das nicht zu vergleichen war mit klassischen Milieus, wie dem Arbeiter- oder dem liberal-bürgerlichen Milieu. Es entstand ein Soziotop jenseits der Klassengrenzen, in dem unter der bald sich abzeichnenden Signatur «links-alternativ» weniger politisch, sondern von Lebenskonzepten her gedacht und gelebt wurde. Ich will das hier nicht weiter ausführen, aber es zeichnete sich ein Muster ab, in dem der 68er-Diskurs aufgegeben wurde zugunsten einer Lebensorientierung, die vom Hunger nach Erfahrung geprägt war.
Es zeigte sich bald, dass die zahlreichen Bewegungen, wie die Hausbesetzerszene, die Umweltbewegung, natürlich auch die Friedensbewegung, mehr von Narzissmus geprägt waren als von klassisch politischen Impulsen. Es bestätigte sich überhaupt der Verdacht, dass politische Bewegungen dann zu scheitern drohen, wenn sie in Milieus oder gar in sektenartige Soziotope abdriften.
Bezogen auf den Diskurs, der damals von der sogenannten Postmoderne beherrscht wurde, ergab sich ein Gesamtbild, aus dem heraus sich zwei Reaktionen entwickelten: ein Hang zur Beliebigkeit und ein weiterer Hang zu einer Art Hypermoral – Dispositionen, aus denen vor allem die Grünen ihr kulturelles und politisches Besteck bezogen und bis heute beziehen. Ich vermute, dass die sogenannte Zivilgesellschaft, bestehend aus NGOs und Stiftungen aller Art, Erbe dieser Vergleichgültigung der politischen Aufklärung wurde – wobei natürlich die ältere Generation aus den Siebzigern und Achtzigern diese Dispositionen an die folgende Generation weitergab und nun allerdings mitansehen muss, dass die jüngere Generation sich davon nicht länger beeindrucken lässt. Wir sehen die Babyboomer nahezu im Auftrag des Staates auf der Straße – und die Zwanzigjährigen bleiben zu Hause vor dem Bildschirm.
Am 15. Februar 2025 fanden in Deutschland Friedensmärsche statt – in München waren es 3000, in Berlin 300 Teilnehmer. Warum ist von der einstigen Friedensbewegung so wenig übrig geblieben?
Wahrlich ernüchternd, diese Zahlen. 2015 habe ich für ZDF/ARTE eine Filmdokumentation über Geschichte und Aktualität der Friedensbewegung gemacht. Kaum ein Echo folgte darauf, wie Sie sich denken können, bis heute nicht. Offensichtlich ist Frieden zu einer Manövriermasse für andere Themen und Diskurse geworden. In meinem Film gibt es übrigens eine Szene, die hervorsticht: Ehemalige Friedensbewegte aus den frühen 1980er Jahren treffen sich nach 25 Jahren auf den Bonner Hofwiesen. Sie wirken gänzlich verloren auf dem großen Platz, der einst Austragungsort für eine soziale Utopie war. Aber auch hier zeigte sich bald ein Muster von Beliebigkeit ab – das Schlimmste, was eine spätmoderne Mediengesellschaft uns auferlegt.
Was Frieden betrifft: Frieden ist nicht alles – aber ohne Frieden ist alles nichts. Dieser Aphorismus, der dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau zugeschrieben wird, ist zwar richtig, aber er büßt seine Kraft dadurch ein, dass er unter die Räder der inhaltsleeren Belanglosigkeit und einer hysterisch selektiven Moral gerät – hinter der zuletzt gar eine narzisstische Haltung sichtbar wird.
Selbst CEOs sprechen heute von einer «ethisch fundierten» Unternehmenskultur. Ethik und Moral scheinen in aller Munde zu sein, aber niemand spricht mehr von Menschenwürde. Welches Problem sehen Sie, wenn nur mehr moralisiert wird?
Zu den wirklichen Veränderungen der vergangenen 50 Jahre trägt eine bestimmte Verschiebung im Diskurs bei: Ab Mitte der Siebziger Jahre wird das herrschende Paradigma der kritischen Soziologie und Psychologie durch die sogenannte geistig-moralische Wende abgelöst, die damals selbst Helmut Kohl verkündete. Bücher über Ethik schossen wie Pilze aus dem Boden. Warum nur: Moral richtet sich an den Einzelnen, vereinzelt ihn aber auch und macht ihn so zur Beute der Macht. Eine Macht, die nun mit einem attraktiven Angebot in den Diskurs eingreift: Der an Gewinn und Profit orientierte Shareholder wird abgelöst vom Stakeholder, der bewusst auf Gemeinsinn und Moral pocht, endend in einer Ideologie von «Wir sitzen alle in einem Boot».
Die Folgen dieser Ideologie sind heute sichtbar: Die Ethisierung aller Verhältnisse, die vor einigen Jahrzehnten einsetzte, hat ein Menschenbild erzeugt, das von einer Lüge durchsetzt ist: Die Statuierung einer universellen Moral zeigt sich bei genauerem Hinsehen als eine äußerst selektive Moral – sie hat vor allem in den letzten Jahren dazu geführt, dass der herrschende Diskurs verzerrt wurde: Aus Interessen wurden ideologisch hochgezüchtete Gefühle, aus Gedanken wurden Hintergedanken und aus Aufklärung wurde Denunziation.
Um hier auf Nietzsche zurückzugreifen: Wir brauchen ein Jenseits von Gut und Böse als Voraussetzung für ein revolutionär neues Menschenbild. Der Mensch muss seinen Wert, seine Würde selbst erschaffen.
Die Gesellschaft ließ ab 2020 Alte und Kranke alleine sterben – menschenunwürdiges Verhalten kann also blitzschnell herbeigeführt werden. Inwieweit wird dies durch unser Verhältnis zum Tod befeuert?
Was da vor fünf Jahren in Altenheimen und Hospitälern geschah, ist Zeichen einer Verirrung und Verrohung, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Gerade die «Experten» aus den Kirchen haben sich da unrühmlich hervorgetan. Man fragte sich unwillkürlich, aus welcher christlichen Substanz die Bischöfe und Pastoren schöpften, wenn sie infolge eines Trennungswahns sich in Baumärkten nach rotgrünen Begrenzungsbändern erkundigten, anstatt den Sterbenden Beistand zu leisten.
Abstandhalten wurde zur Maxime. Es schien für mich so, als ob hier als oberster Wert der unbedingte Wille zur Selbsterhaltung über alle sonstigen Werte, wie Mitleid und Solidarität, triumphierte – und infolgedessen auch noch unbedingter Gehorsam und Unterwerfung unter die staatlich verordnete Maßnahmenpolitik gefordert wurden. So schuf man ein Menschenbild, das sich in ein rigides System einfügen musste. Das Ganze, die Abwehr des Virus, wurde dabei auf einen ominösen Volkskörper im Rahmen einer Gesundheitsdiktatur projiziert – und alle, die sich dieser Prozedur entzogen, wurden zu Leugnern und Querdenkern erklärt. Das alles wissen wir ja inzwischen – aber was dabei unbearbeitet blieb, war die Frage: Wie hat «Corona» unsere Vorstellungen von Moral, von Leben und Tod elementar verändert. Da gilt es noch vieles aufzuarbeiten.
Haben Sie auch deswegen dem Tod ein Buch gewidmet, «Minima Mortalia», das 2020 erschienen ist?
Mit dem genannten Buch «Minima Mortalia» wollte ich einem Dilemma begegnen, das sich nach Beendigung meiner Doktorarbeit über den Tod in der Moderne für mich ergeben hatte. Ich spürte, dass die sehr begriffsorientierte Promotion dem Phänomen «Tod in der Moderne» nicht gerecht wurde. Philosophische Begriffe erschienen sprichwörtlich zu übergriffig, um einem Phänomen, das uns so unmittelbar betrifft, auf die Spur zu kommen: Damit knüpfe ich an Forschungen des Historikers Phillip Aries und des Soziologen Jean Baudrillard an. Für Baudrillard krankt unsere Kultur an einem Missverhältnis zwischen Leben und Tod – seine These: Wir unterhalten ein polares, abstraktes Verhältnis zum Tod, anstelle eines symbolischen Austausches der Lebenden mit den Toten, der in Form von Ritualen realisiert werden kann.
Phillip Aries hingegen bestätigte bei seinem kenntnisreichen Ritt durch die Geschichte, dass wir in einer Fehldeutung gefangen sind: Wir verdrängen den Tod, um ihm zu entgehen. Dies führt aber dazu, dass der Tod in unseren Rücken rückt und sich so als systemische Bedrohung über unser ganzes Leben legt. Unsere gesamte Kultur ist durchsetzt vom Tod. Dadurch können wir einer anthropologischen Aufgabe nicht mehr nachkommen: nämlich den Tod kollektiv zu domestizieren und zu befrieden.
Dort wo Leben und Tod in direkten Kontakt treten, kommen aber auch der Mensch und seine Wertigkeit, letzthin seine Würde, ins Spiel. Das muss sich bewähren und zeigen, wo der einzelne Mensch seine Endlichkeit erfährt. Menschliche Würde ist unvereinbar mit der harten Trennung zwischen Leben und Tod.
Was bedeutet «Würde des Menschen» eigentlich?
Eine knifflige Frage – wie uns schon der berühmte Satz der bundesdeutschen Verfassung beweist: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.» Ich habe mit diesem ersten Artikel immer Schwierigkeiten gehabt. Das liegt allein schon daran, dass das Wort «unantastbar» in den Rang eines Tabus gestellt wird, also etwas, das man nicht mehr hinterfragen darf. Ist die Würde nun etwas Einzigartiges – oder lässt sie sich ausgeben als oberster Wert unter anderen Werten?
Etymologisch gesehen stammen beide, «Wert» und «Würde», aus dem mittelhochdeutschen «Wirde». Schaut man sich in den Niederungen unseres Alltags um, so tritt als drittes Wort die Bezeichnung «Ehre» hinzu, die etwa in Kreuzworträtseln ein Synonym für «Würde» darstellt. Gehe ich vom gewöhnlichen Gebrauch aus, gilt für Ehre und Würde, dass sie eher von außen, also von anderen, auf eine Person übertragen, ja meist feierlich verliehen werden, aber eben auch einem Menschen wieder abhandenkommen können.
Das ist aber nicht das, was der erste Artikel des Grundgesetzes meint, der davon ausgeht, dass die Würde den Menschen quasi ein- und angeboren ist. Also für alle und für alle Zeit den Wert des Menschen bestimmt. So sieht es auch der größte Experte für Werte, Immanuel Kant, mit der zweiten Fassung seines kategorischen Imperativs vor, der sinngemäß so lautet: Betrachte den Menschen immer als Zweck seiner selbst und nicht als Medium und Instrument eigener Interessen. Kant ordnet diese Wertbestimmung dem Menschen als einem Vernunftwesen zu. Aber wir sind mehr – oder weniger – als diese Wesen der Vernunft. Wie wir alle wissen, überfordert diese strenge Bestimmung von Würde den Menschen. In ihr schwingt das Bedürfnis des Menschen nach Auslese. So gibt es den «Mann von Ehre», den «Würdenträger» und «Hochwürden». Würde speziell als oberster Wert, dem sich auch das Bild vom Menschen beugt, das bleibt weitestgehend Illusion.
Seit wann gibt es die Bezeichnung «Menschenwürde»?
Allgemein geht man davon aus, dass in der Antike «Würde» als Wertbegriff keine Rolle spielte – aus durchaus stichhaltigen Gründen: Das allgemeine Menschenbild fußte in Athen auf der Sklavengesellschaft, die mehr als die Hälfte der Menschen, eben die Sklaven, ausschloss.
Mit Cicero änderte sich das ein wenig: Dignitas schuf hier neben Humanitas eine Eingangstür für Würde. Aber erst in der Renaissance legte der Philosoph Giovanni Pico della Mirandola die Basis für das, was später als Würde bezeichnet wurde – menschliche Würde. Mirandola beherzigte, dass Würde dadurch möglich wird, dass der Mensch in Freiheit selbst seine Natur und Identität festlegen kann. Durchaus revolutionär, dieser Gedanke.
Im Mittelalter bestand dann die Würde des Menschen indes darin, dass er als ein Ebenbild Gottes betrachtet und in ein heilsgeschichtliches Konzept eingefügt wurde. Einen Beitrag zur Entwicklung lieferte Descartes: Er definierte den höchsten Wert des Menschen in seiner Konzeption von Ego cogitans und Res extensa – alles was nicht «Ich denke» ist, die ganze Welt also, aber vor allem auch der Körper des Menschen, fällt aus der Wertschätzung heraus, wird sozusagen Material, messbar und Biomasse. Dagegen hob in überraschender Postmodernität Leibniz hervor, dass die Würde des Menschen darin liege, dass das Individuum keine Fenster habe und für die anderen Menschen deshalb immer ein Geheimnis bleiben müsse. Derrida greift dieses Motiv in seiner Philosophie vom Anderen auf: Dem Menschen eignet ein Geheimnis – das macht auch seine Würde aus. In der Warentheorie von Karl Marx kann man eine negative Entwicklung herauslesen, die mit der Warenproduktion im Kapitalismus den Menschen selbst zur Ware macht.
Und welche Rolle spielte das Bürgertum bei der Einführung dieses Begriffs?
Es ist durchaus zutreffend, dass zu Zeiten des Übergangs von der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft die Begriffe «Ehre» und «Würde» eine wesentliche Rolle spielten. Dem Adel kam gewissermaßen die Ehre zu und dem Bürger die Würde. Nahezu das gesamte Werk von Friedrich Schiller dreht sich um die Frage, wie der Bürger sich seine Würde gegen die korrumpierten Adeligen und deren verlogene Ehrbegriffe eroberte. Und Johann Wolfgang von Goethe – hier durchaus praktischer veranlagt als der idealistische Schiller – notierte recht unverblümt, dass die Würde und Ehre des Adeligen in seinem Ansichsein und Dasein, die des Bürgers aber in seinem Tätigsein zu finden sei. Was ja letztlich hieße: Würde ist in einem Falle angeboren, im anderen ein zu eroberndes Ziel.
Wodurch kommt Menschenwürde überhaupt abhanden? Warum gewöhnen sich Menschen daran? Und welche Rolle spielt Hierarchie dabei?
Für Kant – wie ich ja schon kurz ausgeführt habe – spielt die erste Frage keine Rolle. Würde wird demnach weder von außen verliehen noch kann sie dem Menschen – selbst dem bösen – abhandenkommen. Aber der Preis für diese Argumentation ist hoch. Sie ist abstrakt und nimmt wenig Rücksicht auf den realen Menschen und den Hang in allen Gesellschaften, Gratifikationen oder Bestrafungen an den Einzelnen vorzunehmen. Das gilt bis heute und lässt die Ähnlichkeit von Ehre, Wert, Ansehen und Würde weiter ins Kraut schießen, ja man könnte fast sagen, dass sie unauflösbar ineinander verschlungen sind und Hierarchiebildung, Macht und Gewalt unter Menschen begünstigen.
Wann verhält sich ein Mensch würdevoll, wann wird er zum Würdenträger, was versteht man unter einer Würde des Amtes? Hier wird ein semantisches Klima erzeugt, in dem dann auch das Wort «Ehre» seine meist unsagbare Rolle spielt, etwa wenn vom «Feld der Ehre» die Rede ist oder im SS-Jargon gesagt wird: «Unsere Ehre heißt Treue.»
Wenn alle weltweit verinnerlicht hätten, was Menschenwürde ist, und darauf selbstverständlich bestünden, welche Auswirkungen hätte das – in Hinblick auf Ausbeutung, Totalitarismus und Kriege?
Das erste ist eine hypothetische Annahme, die kaum je eintreten wird. Aber Ihre Frage könnte sich hier auf die Menschenrechte und weniger auf Menschenwürde beziehen.
Füllt die Einhaltung der Menschenrechte die Lücke aus, die die Frage nach der Würde allzu schwammig zurücklässt?
Vielleicht sollte man hier die Frage einschieben, welches Bild wir vom Menschen haben – eine letztlich anthropologische. Die kann man dann auch in unserem Alltagsverhalten herunterbrechen. Man kann womöglich an kleinsten Nuancen ablesen, ob wir im anderen ein menschliches Wesen sehen oder ihm dieses Werteprädikat absprechen: Ein verächtlicher Blick im Vorübergehen reicht da schon, um den anderen in seiner Würde zu vernichten. Über Kriege und totalitaristische Systeme will ich hier gar nicht reden.
Eines aber sei angemerkt: Kriege und totalitäre Systeme zielen auf Ganzheit und anonyme Masse ab – kurz auf eine Ideologie, die dem Individuum zutiefst misstraut. Das Individuum aber ist es, das sein innerstes Wesen auf jene Würde gründet, die Kant benannt hat. Wer die «Pandemie» in den letzten fünf Jahren mitverfolgt hat, gewann schon früh den Eindruck, dass das Individuum in Misskredit geriet – ganz im Dienste einer Sache, die Unterwerfung des Einzelnen betrieb.
Warum eigentlich dieses sperrige Wort anstatt «Liebe» beziehungsweise «liebevoller Umgang»?
Sperrig kann man das Wort «Würde» schon nennen – aber ist es um das Wort «Liebe» viel besser bestellt? Die Irrungen und Wirrungen der Liebe sind schwer einzugliedern in ein Konzept von Menschenwürde. «Liebevoller Umgang mit anderen» eignet sich dazu schon mehr. Letztlich sollte sich aber die Menschen-Würde daran ablesen lassen, dass der Mensch – man selbst und der andere – ein kreatürliches Wesen ist, das um seine Endlichkeit weiß. Dieses Schicksal trifft jeden und sollte uns zur Solidarität mit anderen anregen.
Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.
Kommentare