Die eidgenössischen Räte haben entschieden, dass die Schweiz in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbleibt. Mit 121 zu 65 Stimmen bei einer Enthaltung wurde im Nationalrat eine Fraktionsmotion der Schweizerischen Volkspartei (SVP) abgelehnt, die den Austritt aus der EMRK forderte. Hintergrund der Debatte war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall der «Klimaseniorinnen», das kritisierte, dass die Schweiz ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen im Klimaschutz nicht ausreichend erfülle.
Selbst die grüne Alt-Bundesrichterin Brigitte Pfiffner hatte das Urteil als «juristisch nicht haltbar» bezeichnet. Das Gericht mache Politik, statt die Menschenrechtskonvention auszulegen, sagte Pfiffner. Somit war es dieses Urteil, das zu einem offenen Konflikt zwischen der Schweiz und der Straßburger Institution geführt hat, denn der Bundesrat, die Landesregierung, hatte schon im Sommer klargemacht, dass er sich nicht an das Klimaurteil gebunden fühle.
Gleichzeitig mit den Diskussionen im Parlament gab es neuen Ärger mit dem EGMR. In der vergangenen Woche veröffentlichte dieser ein neues Urteil, das zeigt, dass er es mit der Subsidiarität der Rechtsprechung kaum mehr ernst nimmt.
Die Schweiz hatte einen bosnischen Drogendealer für fünf Jahre des Landes verwiesen. Damit sei dem Mann das Recht auf ein Familienleben vorenthalten worden. Der Gerichtshof sprach dem Mann sogar eine Genugtuung von 10.000 Euro zu. «Ein Herz für Drogenhändler» titelte die NZZ-Journalistin Katharina Fontana, während die anderen großen Medienhäuser das Thema unter «ferner liefen» abhandelten.
Drogenhandel ist gemäß Bundesverfassung und Strafgesetzbuch in der Schweiz eines der Delikte, das einen Landesverweis nach sich zieht. Das Bundesgericht sah nun im konkreten Fall keinen Grund, davon abzuweichen. Der Bosnier war erst im Alter von 30 Jahren in die Schweiz gekommen und wurde wenig später straffällig. Im Normenkonflikt mit dem verfassungsmäßigen Schutz der Ehe sah es das oberste Gericht als zumutbar an, wenn die serbische Ehefrau und die beiden Kinder mit dem Vater nach Bosnien gehen oder von der Schweiz aus den Kontakt halten.
Straßburg argumentierte, dass die Freiheitsstrafe nur bedingt ausgefällt wurde und dass der Täter bisher nicht vorbestraft war. Auch der Schweizer Richter, der Sozialdemokrat Andreas Zünd, der sein Land praktisch bei jeder Gelegenheit verurteilt, war dieser Ansicht. Als Minderheitsmeinung argumentierten die isländische und die holländische Richterin, das Bundesgericht habe die Interessen sorgfältig abgewogen und es käme bei Ausweisungen nicht aufs Strafmaß an, da es sich bei Drogendelikten um schwerwiegende Taten handle.
Die Parlamentsdebatte über die «Klimaseniorinnen» wurde somit zum Gradmesser für den Ärger, den Bern mit Straßburg hat. Die SVP argumentierte, dass das Gericht in Straßburg die Demokratie untergrabe, indem es politische Entscheidungen treffe und neue Verpflichtungen aus der EMRK ableite, die nicht von den Vertragsstaaten beschlossen wurden. SVP-Nationalrat Michael Graber bezeichnete das Klima-Urteil als eine Verzerrung des eigentlichen Ziels der EMRK, da es die EMRK auf Klimafragen ausweite. Er betonte, dass die Grundrechte bereits in der Bundesverfassung der Schweiz verankert seien.
Die anderen politischen Fraktionen äußerten sich nicht offiziell, jedoch kam es zu kritischen Nachfragen an Graber und an Justizminister Beat Jans. SP-Nationalrat Christian Dandrès wies darauf hin, dass nur das von einer Militärdiktatur regierte Griechenland 1969 freiwillig aus der EMRK ausgetreten sei. Amnesty International kritisierte im Vorfeld der Debatte, dass ein Austritt der Schweiz ein negatives Signal an Länder wie Russland, die Türkei und Ungarn senden würde, die den Menschenrechtsschutz bereits infrage stellen.
Der Bundesrat betonte, dass die EMRK und Urteile des Straßburger Gerichts in den vergangenen Jahrzehnten zur Stärkung des Rechtsstaats und der Grundfreiheiten in der Schweiz beigetragen hätten. Ein Austritt hätte schwerwiegende Folgen für die internationale Glaubwürdigkeit und würde die Schweiz politisch isolieren, ähnlich wie Russland und Weissrussland. Justizminister Beat Jans wies zudem darauf hin, dass das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat durch die Möglichkeit gestärkt werde, Urteile an den EGMR weiterzuziehen.
Obwohl die SVP-Forderung abgelehnt wurde, bleibt das Thema aktuell, denn es gibt die Motion von FDP-Nationalrat Andrea Caroni, die fordert, dass der EGMR sich auf seine Kernaufgaben konzentriert und den Ländern einen Ermessensspielraum garantiert. Die FDP warnt vor den Folgen einer ausufernden und übergriffigen Rechtsprechung des EGMR. Daher fordert sie den Bundesrat auf, zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten Maßnahmen zu ergreifen, um den EGMR an seine Kernaufgaben zu erinnern: den Schutz des Einzelnen vor staatlichen Übergriffen. Die Motion fordert, dass der Bundesrat mit den anderen Mitgliedstaaten ein Protokoll aushandelt, das dem EGMR klare Leitplanken setzt.
Kommentar von Transition News
Mit politisch gefärbten Urteilen, gerne auch gegen kleine und pflegeleichte Länder wie die Schweiz, untergräbt der EGMR seine Glaubwürdigkeit. In vielen Ländern ist das Ansehen des Gerichtshofs bereits am Sinken. In Deutschland, Österreich und England wird schon diskutiert, ob EGMR-Urteile noch als bindend betrachtet werden müssen oder bloße Empfehlungen sind.
Auch in der Coronazeit hat sich der Gerichtshof nicht mit Ruhm bekleckert. Die Zeit war geprägt von massiv übergriffigen Staaten, denen der EGMR kaum etwas entgegensetzte.
Der Austritt der Schweiz wäre aber gegenwärtig nicht der richtige Weg. Es ist ein Versuch wert, Reformen anzustoßen, damit der Gerichtshof sich auf seine Kernaufgabe konzentriert, die er dann aber hoffentlich wirksam wahrnimmt. Justizminister Beat Jans scheint von dieser Aufgabe, die ihm das Parlament wohl übertragen wird, wenig begeistert, denn er muss alle anderen Mitglieder für ein solches Zusatzprotokoll gewinnen.
Aber einen Versuch ist es wert.
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