Der «Wokeismus» sei nicht nur eine kulturelle Bewegung, sondern eine offizielle Doktrin der Vereinigten Staaten von der Obama-Ära bis Januar 2025 gewesen. So das Argument der brasilianischen Philosophiehistorikerin und Essayistin Bruna Frascolla. In Strategic Culture Foundation sieht sie zwei Erklärungen für die Durchsetzung dieser Ideologie: eine politische und praktische und eine philosophische und kulturelle.
Bei Ersterem geht es um die Zusammenarbeit einer kleinen Gruppe von Influencern, NGOs und Medien, um bestimmte Narrative zu verbreiten, die sich schnell durchsetzen. Eine zentrale Rolle hätten dabei ausgeklügelte Marketingstrategien gespielt, die von David Axelrod, einem der Hauptstrategen hinter Barack Obamas politischem Erfolg, entwickelt wurden.
Axelrods Ansatz, der als «Erlaubnisstrukturen» («permission structures») bezeichnet wird, konzentrierte sich laut Frascolla nicht auf den Inhalt der Politik, sondern auf die Gestaltung des Selbstbildes der Wähler. Das Ziel sei gewesen, sie zu ermutigen, bestimmte politische Positionen einzunehmen, um sich mit einer gewünschten Identität zu verbinden. Frascolla:
«Influencer verkaufen eine Identität, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nische. Deshalb geht es beim Verkauf mehr um die Identität des Verbrauchers als um die Nützlichkeit oder Qualität des Produkts.»
Slogans und Ideen wurden demnach auf Social-Media-Plattformen wie Twitter und Reddit getestet, und bei gutem Abschneiden «in der von Obama und Axelrod aufgebauten großen Maschine befördert».
Diese ursprünglich für die Werbung entwickelte Strategie sei zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in sozialen und politischen Fragen umfunktioniert worden. Sie habe ein Klima geschaffen, in dem sich der Einzelne gezwungen sah, progressive Ideen öffentlich zu unterstützen, um als moralisch und gesellschaftlich akzeptabel wahrgenommen zu werden. Dieser Prozess führte laut Frascolla letztlich zu einer weit verbreiteten ideologischen Konformität, wobei die Mainstream-Institutionen progressive soziale Doktrinen verstärkten. Sie erläutert:
«Es begann damit, dass weiße Wähler für Schwarze stimmten, um sicherzugehen, dass sie nicht rassistisch waren, und gipfelte in einem Lynchmob, der die Schurken bestrafen wollte, die mRNA nicht injizierten. Plötzlich musste sich jeder einer Reihe von Ideen anschließen und sie öffentlich unterstützen, um allen zu beweisen, dass er ein guter Mensch war. In der Tat handelte es sich um eine ebenso totalitäre wie verdummende Maschine.»
Die kulturelle Erklärung führt die Wurzeln des Wokeismus auf die Religionsgeschichte der Vereinigten Staaten zurück, insbesondere auf den Aufstieg des Unitarismus im 19. Jahrhundert. Frascolla weist dabei auf einen anderen Beitrag von ihr hin: «After all, how did a Puritan nation end up idolizing transvestites?». («Wie kam es dazu, dass eine puritanische Nation Transvestiten vergötterte?»)
Frascolla zufolge legte der theologische Liberalismus, der eine externe religiöse Autorität zugunsten einer individuellen Interpretation ablehnte, den Grundstein für die spätere Politisierung sozialer Fragen. Im Zuge der Entwicklung des protestantischen Liberalismus seien Themen aufgegriffen worden, die die konventionelle Moral in Frage stellten, wie Feminismus, Antirassismus und später die Rechte der Homosexuellen. Im Laufe der Zeit habe dieser religiöse Liberalismus die konfessionellen Grenzen überschritten und nicht nur protestantische Kirchen, sondern auch Synagogen und säkulare Einrichtungen beeinflusst.
Die Philosophiehistorikerin geht auf historische Ereignisse wie dem sogenannten Scopes Monkey Trial von 1925 ein, der die Spaltung zwischen theologischen Liberalen, die die Evolution akzeptierten, und Fundamentalisten, die sich modernen wissenschaftlichen Interpretationen widersetzten, vertiefte. In diesem Gerichtsverfahren in Tennessee wurde der Lehrer John Thomas Scopes 1925 zu 100 Dollar Bußgeld verurteilt, weil er Darwins Evolutionstheorie an öffentlichen Schulen gelehrt hatte.
Gemäß Frascolla sind die USA auf dem Weg zu sich verändernden protestantischen Strömungen. Fundamentalisten zum Beispiel seien durchweg pro-Israel, und zwar aus biblischen Gründen. Der Staat sei sogar gegründet worden, um eine protestantische religiöse Forderung zu erfüllen, entgegen der vorherrschenden Meinung der damaligen Rabbiner, die es für ketzerisch hielten, vor der Ankunft des Messias in das Heilige Land zurückzukehren.
Der US-amerikanische Staat sei theoretisch vollkommen säkular und frei von jeglichen theologischen Einflüssen, so Frascolla. Das sei der Grund, warum der Unitarismus so erfolgreich war. Es sei eine Kirche, die sich nicht als Kirche verstehe, sondern eher als eine Vereinigung von Individuen, die zufällig gleich denken. Ihr Glaubensbekenntnis habe zu 90% mit politischen Fragen zu tun. Die Fundamentalisten seien im Nachteil, aber das lasse sich durch ein Bündnis mit den rechten Atheisten ausgleichen:
«Die Wissenschaft wird ihnen künftig bescheinigen, dass ihre Kultur die beste der Welt ist, ein Schritt, den der Hohepriester des Atheismus, Richard Dawkins, auf persönlicher Ebene bereits getan hat. Nun, die Wissenschaft hat bereits entschieden, dass Frauen Penisse haben. Die Entscheidung, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde, wäre eine Kleinigkeit. Aber die amerikanischen Oligarchen sind Atheisten wie Dawkins. Was sie in Zukunft tun können, ist die Kombination Thiel + Vance zu imitieren, ein atheistischer Sponsor mit einem traditionalistischen religiösen Politiker. (...)
Man muss nur die Forschung über die Auswirkungen einer gesunden Ehe auf Kinder verstärken, die Voreingenommenheit der Forschung ändern, die Kinder vergleicht, die von heterosexuellen und homosexuellen Paaren aufgezogen werden, die psychische Gesundheit religiöser Menschen erforschen, und voilà: schon hat man eine Verteidigung des Christentums im Stil von Dawkins, die einem Thiel, einem Bezos usw. behagt.»
In Bezug auf die Außenpolitik zieht der Frascolla Parallelen zwischen früheren Bündnissen der USA mit religiösen Fundamentalisten und möglichen künftigen ideologischen Verschiebungen. Sie verweist auf historische Beispiele, wie die US-amerikanische Unterstützung der afghanischen Mudschahid gegen die Sowjetunion. Die USA hätten oft religiöse Gruppen gegenüber säkularen bevorzugt, wenn dies geopolitischen Interessen diente:
«Wenn der arabische Mittlere Osten zwischen Säkularen und Muslimen gespalten ist, besteht der Antrieb der westlichen Maschinerie darin, die Letzteren zu unterstützen – weshalb die Hamas anfangs die Unterstützung Israels hatte.»
Der beispielhafteste Fall dafür sei derzeit der Sturz des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad. Der in Anzug und Krawatte im westlichen Stil gekleidete Arzt sei als barbarischer Diktator dargestellt worden. An seiner Seite sei seine elegante Frau, die zwei Bachelor-Abschlüsse aus London hat, ohne Schleier herumspaziert. «Nun ist ein fundamentalistischer Metzger auf den Plan getreten, der, wie man vermutet, nicht gerade ein Feminist ist. Aber er hat die gleiche Meinung zum Alkohol wie die Puritaner der alten Schule», schließt Frascolla.
Kommentare