Eine Buchmesse wie die in Leipzig vom vergangenen Donnerstag bis Sonntag ist wie ein Ozean. Wie dieser aus vielen kleinen Wassertropfen besteht, setzt sich die Messe zusammen aus vielen Büchern, Verlagsständen, hunderttausenden Besuchern und unzähligen Veranstaltungen über Bücher und mit Autoren.
Publikumswellen am Samstag (alle Fotos: Tilo Gräser)
Der Aufenthalt dort war wieder wie eine Fahrt über einen Ozean des Lesens, Hörens und Sehens mit seinen vielfältigen Erscheinungen und Formen. Mit Stationen, die abstossend oder zumindest interessant waren, die ich aber nicht wieder ansteuern werde, und solchen, die wie ein Leuchtturm wirkten und mich immer wieder anziehen.
Zu Letzteren gehörte die halbe Stunde am Samstag, in welcher der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz in einer der fünf grossen Messehallen sein jüngstes Buch «Friedensfähigkeit und Kriegslust» vorstellte. Es war ein wohltuender Kontrapunkt zu zahlreichen anderen Stationen der Messe, die laut und schrill in einen Bekenntnischor einstimmten, der nicht nur der «Demokratie» galt, sondern ebenso bis zur Kriegshetze gegen Russland ertönte.
Er sei sehr «empört, entsetzt, beunruhigt» angesichts des Kriegstaumels und der kriegstreibenden Hetze gegen Russland, die hierzulande Politik und Gesellschaft ergriffen haben, so der Psychoanalytiker. Und frage sich, «was ist denn in Deutschland passiert?»
«Sind die 80 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg mit dem ‹Nie wieder!› und ‹Wehret den Anfängen!› alles falsch, alles geheuchelt, alles Lüge? Ich will es nicht glauben. Ich habe es für mich ziemlich ernst genommen.»
Maaz versuchte, die Ursachen aus seiner beruflichen Perspektive zu ergründen und zu beschreiben und stellte klar:
«Es genügt nicht, zu sagen ‹Ich bin für Frieden› oder ‹Ich bin gegen den Krieg› oder ‹Ich bin für Demokratie›. Sondern es muss ein innerer seelischer Prozess sein, der stattfindet.»
Doch genau dieser innere Prozess stehe bei vielen bis heute nicht hinter den lauthals verkündeten Bekenntnissen. Wenn es keine entsprechende innere Entwicklung gebe, sei die geäusserte Gesinnung nur geheuchelt. Maaz verwies dabei auf die Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten ebenso wie auf die Zeit nach 1989 und nach dem Untergang der DDR.
«Sehr gestörte Einstellung»
Er beschrieb die Psychodynamik, die dazu führt, «dass plötzlich eine Politik wieder in den Krieg führen will, dass Waffen geliefert werden, die ja in meinen Augen vor allen Dingen Tod bringen». Wenn behauptet werde, «unsere Waffen schützen Leben», zeuge das von «einer sehr gestörten Einstellung», denn Waffen seien zum Töten da.
So hatte Bundesaussenministerin Annalena Baerbock im Oktober 2022 erklärt: «Unsere Waffenlieferungen schützen Leben.» Wenn damit nur ukrainische Leben geschützt werden sollen, sei das auch rassistisch, sagte Maaz in Leipzig, denn die Waffen würden russische Leben töten. So werde nur eine Seite bedacht und die andere missachtet.
Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz am Samstag auf der Buchmesse in Leipzig
Ihn beschäftige seit seiner Jugend die Frage, warum es immer wieder möglich ist, dass politisch Verantwortliche zum Krieg aufrufen und «grosse Teile der Bevölkerung dem Glauben schenken oder sogar bereit sind, dafür zumindest keinen grösseren Widerstand erkennen lassen». Da seine Eltern ebenso wie die Politiker die Antwort darauf schuldig blieben, habe er diese als Psychotherapeut herauszufinden versucht. In seinen Büchern hat er die zugrundeliegende Selbstentfremdung der Menschen schon in der Kindheit sowie deren Folgen wie den «Gefühlsstau» beschrieben.
Das führe zu narzisstischen Störungen wie übertriebenem Leistungswillen oder einer übermässigen Anpassung an die gesellschaftlichen Vorgaben, die Maaz bei der Bevölkerungsmehrheit ausmacht. Beides passe «oft wie Topf und Deckel zusammen» und befinde sich in einer «kollusiven Verbindung», in einem Zusammenspiel.
«Ich gehe heute sogar so weit, dass in der Form unserer narzisstischen Gesellschaft eine narzisstische Störung Pflicht ist, um überhaupt an die Macht zu kommen. Wer diese Störung nicht hat, kommt nicht an die Macht, weil er sich dann in den Ränkespielen der Parteien gar nicht bis nach oben dienen kann.»
Der Psychoanalytiker sieht die Gesellschaft in einer aus den beschriebenen Mechanismen bedingten politischen und seelischen Krise. Diese berge die Gefahr, «dass Menschen eher krank oder böse werden», also entweder psychosomatische Symptome zeigen oder sich an anderen Menschen und Situationen abreagieren.
Krisenverantwortliche suchen Sündenbock
Aus der Sicht von Maaz versuchen Politiker und die «finanzkapitalistische Elite» angesichts der gesellschaftlichen Krise ihre Macht zu sichern, indem sie Angst schüren:
«Angstmache, Panikmache ist das leichteste Herrschaftsmittel. Wenn man Angst hat, wird man unsicher, ist man abhängig. Angst macht dumm. Angst sucht nach Rettung.»
Das habe sich bei der Corona-Pandemie ebenso gezeigt wie bei der «angeblich menschengemachten Klimaveränderung», während gegenwärtig «die Russen» und innenpolitisch die AfD den Sündenbock hergeben müssen. Maaz bezeichnete es als «Irrwitz», dass die politischen Kräfte von CDU bis Grüne, die für die politische, ökonomische und gesellschaftliche Krise verantwortlich sind, nun die AfD dafür als schuldig erklären und aufrufen, diese zu bekämpfen.
Selbst er wundert sich, «wie das funktioniert, dass Menschen so einen Unsinn glauben, dass das die Gefahr ist». Wenn Kritiker, Andersdenklende oder bestimmte Parteien abgewehrt und abgewertet werden, sei das «ein Zeichen für das Ende demokratischer Strukturen».
«Denn ein Demokrat würde den Konsens suchen, würde den Kontakt suchen, würde das Gespräch suchen. Er würde auch Verhandlungen, Friedensverhandlungen anstreben. Aber da das nicht passiert, kann man sicher sein: Wir leben nicht mehr in wirklich demokratischen Verhältnissen.»
Diese klare Diagnose von Maaz war ebenso wie die, welche er jenen stellte, die statt Friedensverhandlungen für mehr Waffenlieferungen in die Ukraine eintreten und damit vom Schreibtisch aus noch mehr Menschen töten, ein Leuchtturm. Der für einen kurzen Moment in einem Meer aus Bekenntnissen, wie «Demokratie wählen» und dass Russland das zu bekämpfende «absolut Böse» sei, erstrahlte.
Bekenntniszwang per Transparent
Es war ein Kontrapunkt zum Bekenntniszwang, der sich unter anderem in der Initiative der deutschen Buchbranche zur Buchmesse unter dem Motto «#DemokratieWählenJetzt» zeigte. Dazu hingen in den Messehallen an den Decken grosse Transparente, die forderten «Demokratie wählen».
Messebesucher sollten sich an Stellwänden mit dem Motiv «Demokratie wählen. Jetzt.» an Fotowänden in drei Hallen fotografieren und die Bilder auf den Plattformen posten. Wenn ich an einer der Wände vorbeikam, war dort niemand zu sehen, der sich so fotografieren liess.
Aber dafür hatten Veranstaltungen wie die am Freitag zum Thema «Journalismus gegen rechts» einen grossen Publikumszulauf. Bei der Runde in der Messehalle 4 konnte neben anderen Aktivisten auch Correctiv-Chef David Schraven erklären, wie er «gegen rechts» «kämpft». Am Sonntag durfte er zum Thema «Das Superwahljahr und der Kampf um unsere Demokratie» debattieren.
Aktivistische Journalistendarsteller wie Schraven zeigen keine Selbstzweifel am eigenen Tun, erst Recht nicht bei einem öffentlichen Ereignis wie der Buchmesse. Sie sind getrieben vom inneren Bekenntniszwang, der sich in Leipzig auch bei Franziska Davies zeigte, einer Frau, die als Historikerin gilt. Und die bei einer Veranstaltung am zweiten Messetag zum Thema Ukraine allen Ernstes erklärte: «Geschichte ist eigentlich irrelevant in dieser Frage.»
Für sie ist wie für Kateryna Stetsevych von der Bundeszentrale für politische Bildung, die die Veranstaltung moderierte, Russland das «absolut Böse» das bekämpft werden muss. Der Versuch, den Krieg in und um die Ukraine mit der Geschichte zu erklären, ist laut Davies «im Grunde genommen eine Genozid-Verharmlosung». Und so forderte sie wenig überraschend, die Ukraine «viel mehr» zu unterstützen, «militärisch vor allem».
Buchmesse für Kriegshetze missbraucht
Stetsevych stand ihr dabei in nichts nach, noch weniger der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, der mit den beiden Frauen in der Runde sass. Er gab sich überzeugt, dass der «Sieg über diesen Bösen» erreicht wird, denn «anders hat nichts einen Sinn in dieser Existenz». Er sei sich «absolut sicher», «dass Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie gewinnen und siegen werden», was bedeute, «dass die Ukraine in diesem Krieg gewinnen wird».
von links: Franziska Davies und Juri Andruchowytsch
Aus dem Publikum kam bei solchen Aussagen kein Widerspruch, wie auch nicht bekannt ist, dass die Messeleitung auch nur irgendwas dazu sagte, dass die Buchmesse zur Kriegshetze missbraucht wird. Eher gilt das als Äusserungen der «Solidarität mit der Ukraine».
Was von der offiziell beschworenen Vielfalt auf der Buchmesse zu halten ist, zeigte sich nicht nur in dem Heraushalten von allen, die als «rechts» und «Demokratiefeinde» gelten. Die Einseitigkeit wurde an weiteren Details deutlich: Am Eingang zu den Messehallen wehten die Fahnen aller Länder, die in irgendeiner Form auf der Buchmesse vertreten sind.
Neben der bundesdeutschen Flagge hingen aber nicht etwa die Fahnen der Niederlande und der belgischen Region Flandern, in diesem Jahr gemeinsames «Gastland» in Leipzig. Neben dem Schwarz-Rot-Gold wehte rechts zuerst das Blau-Gelb der Ukraine und dann die Fahne Israels. Die des Gastlandes war irgendwo mittendrin im Fahnenmeer zu sehen – und es fehlt die Fahne Russlands, weil russische Verlage und Medien in diesem Jahr wieder nicht vertreten waren.
Die Suche nach Büchern und Veranstaltungen zu Russland förderte entsprechend nur solche zu Tage, in denen dieses Land wegen des Krieges in der Ukraine kritisiert und verurteilt wird. Oder in denen sein Untergang vorhergesagt wird, wie in dem neuen Buch der Deutschlandfunk-Redakteurin Sabine Adler.
Die konnte ihr neuestes Werk mit dem Titel «Was wird aus Russland? Über eine Nation zwischen Krieg und Selbstzerstörung» gleich viermal während der Buchmesse vorstellen. Die ehemalige Moskau-Korrespondentin des Deutschlandfunks beschrieb mit dem Gestus der nach vielen Jahren Russland-Aufenthalt Bescheidwissenden das Land als nach innen und aussen gefährlich.
Russland-Bashing und Lügen
Zugleich zeichnete sie beispielsweise bei der Buchvorstellung am Freitag in der Leipziger Stadtbibliothek das Bild einer «sedierten Gesellschaft», in der die russische Bevölkerungsmehrheit als betäubte Untertanen sich alles von der staatlichen Macht gefallen lässt. Es handele sich um einen Menschentyp, der sich stets einfüge, «ganz gleich unter welcher Ideologie oder auch ganz ohne sie»: «Sie begehren nicht auf, sie hinterfragen nicht.»
Die russische Gesellschaft ist laut Adlers Buch durch eine «kollektive, intellektuelle, moralische und sogar religiöse Trägheit» gekennzeichnet. In dieser Linie waren die Äusserungen der Journalistin, die zu DDR-Zeiten in Leipzig Journalistik studieren durfte.
Sabine Adler bei der Buchmesse in Leipzig am Samstag
Gefragt zu dem immer lauter ertönenden Ruf nach Verhandlungen für ein Kriegsende in der Ukraine, behauptete sie wahrheitswidrig nicht nur, dass Russlands Präsident Wladimir Putin kürzlich erklärt habe, an Verhandlungen nicht interessiert zu sein. Sie erklärte ebenso, die Ukraine habe «natürlich das allergrösste Interesse an Friedensgesprächen».
Bei einer Gesprächsrunde am Samstag sagte sie, Putin brauche den Krieg, weil er ihm noch mehr Macht gebe. Und die Deutschlandfunk-Journalistin redete von der «grossen Gefahr, dass nach der Ukraine dann tatsächlich noch andere Länder an der Reihe sind».
Leere Worthülsen vom Kanzler
Solche Aussagen bestätigten die Diagnosen von Maaz und widersprachen dem offiziell verkündeten Anspruch, die Buchmesse sei ein ««Ort der Demokratie und Literaturvielfalt». Das zeigte sich als ebensolche hohle Phrase wie jene Worthülsen, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) von sich gab, als er am Mittwoch zur Eröffnung der Messe sprach.
Er redete von «Lesen als Zulassen», als «täglich praktizierte Bereitschaft, die eigene Perspektive infrage zu stellen, seine eigene Blase zu verlassen, sich an die Stelle des anderen zu begeben». Diese Bereitschaft sei und bleibe «gerade jetzt wichtig» sowie «essenziell für unsere Demokratie».
Er stellte fest, «Wir leben nicht in friedlichen Zeiten», natürlich ohne auch nur im Ansatz den Beitrag der eigenen Politik dazu zu erwähnen. Dagegen sind auch für Scholz daran immer die anderen schuld: «Der verbrecherische russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der mörderische Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel und der Krieg in Gaza, hunderttausendfaches Leid, unendliche Trauer, unendliche Wut. Selten war es leichter, sich von dieser Wut mitreissen zu lassen.»
Eingeschränktes «Fest des freien Wortes»
Es gab zum Glück nicht nur das, sondern auch solche Momente wie der beschriebene mit Hans-Joachim Maaz oder die Präsentation des Buches «Vom Frieden» mit Texten westfälischer Autoren. Das Buch entstand aus Anlass des 375. Jahrestages des Westfälischen Friedens zu Münster und Osnabrück im Jahr 2023. Es ist eine Friedens-Anthologie, die Mut machen und zum Weiterdenken anregen will und dabei die Geschichte «in Beziehung setzt zu unserem offenbar doch nicht ganz so stabilen Frieden heute».
Der Stand einer kleinen Galerie
Natürlich war auch die diesjährige Buchmesse bunter und vielfältiger, als es die dominante politische Einseitigkeit und der verkündete Bekenntniszwang erscheinen lassen. Es gab wieder eine unfassbare Vielfalt der literarischen Angebote in Form, Genre und Themen – bis hin zur gleichzeitigen Manga-Comic-Convention in zwei Messehallen, die mehr als die Hälfte der mehr als 280’000 Besucher in den ersten beiden Tagen angezogen haben dürfte.
Die Messe war aber nicht das «Fest des freien Wortes», wie es in der Pressemitteilung zum Ende am Sonntag behauptet wurde. Dazu wurden zu viele Worte und jene, die sie in verschiedenster Form äussern, ausgeschlossen und ferngehalten, mit dem Anspruch, so «demokratische Grundwerte wie die Menschenwürde, Freiheit und Toleranz“ zu schützen. Das ist das Gegenteil von Vielfalt, von der die Demokratie und die Literatur leben – und die auch einen Ozean ausmacht.
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