«Alles war viel normaler, als ich es mir vorgestellt hatte», sagte der französische Soziologe und Historiker Emmanuel Todd in einem aktuellen Interview mit der Schweizer Zeitung Die Weltwoche über seine Reise vor Kurzem nach Moskau.
«Die Menschen starren auf ihre Handys, sie konsumieren und bezahlen mit Kreditkarten, sie benutzen E-Trottinetts wie in Paris.»
Der große Unterschied sei gewesen, dass alle Rolltreppen und Aufzüge funktionierten. Man könne normal mit den Leuten reden. Die Rückkehr nach dem viertägigen Aufenthalt aus der russischen Normalität in die westliche Irrationalität sei für ihn auch ein Schock gewesen.
Die Sanktionen hätten Russland zu Maßnahmen gezwungen, die Putin ohne den Krieg nicht hätte durchsetzen können. Todd wies auf die «große Fähigkeit der Anpassung» hin, die die Russen seit den neunziger Jahren entwickelt haben. Außerdem hätten sie den Handel mit anderen ausgebaut.
Er ist überzeugt, dass sich Russland seit Putin auf dem Weg der Normalisierung befindet. Todd wurde nach seinen Angaben nach Russland eingeladen und stellte dort sein neues Buch mit dem Titel «Der Niedergang des Westens» vor. Zu Hause werde er wie in den großen deutschen Medien totgeschwiegen.
Der Historiker hält sich für einen Linksliberalen und empfindet keine «reaktionäre ideologische Sympathie» für Russland und Putin, erzählte er der Weltwoche. Seine positive Grundeistellung gegenüber Russland ist nach eigenen Worten Ausdruck seiner Dankbarkeit für den Sieg im Zweiten Weltkrieg.
Der Untergang des Westens
Es gibt laut Todd in den USA einen seltsamen Willen zur Zerstörung. Damit meinte er nicht nur den Niedergang der US-Industrie, sondern auch die Menschen und die Wirklichkeit. Die Ursache dieser Entwicklung sieht er im Niedergang des Protestantismus, der «eine existenzielle Leere» hinterlasse.
Die Gründungstaaten der EU – Frankreich, Deutschland, Italien – werden aus seiner Sicht im Ukraine-Krieg, «den die Sieger des Zweiten Weltkrieges nach dem Kalten Krieg mit Waffen gegeneinander führen», übergangen. Europa werde unter Vormundschaft der Vereinigten Staaten neu strukturiert.
«Die europäischen Länder haben den Krieg verloren, aber sie merken es noch nicht.»
In seinem Vortrag in einem «feindlichen Land» habe er Europa von außen betrachtet und deutlich dessen Irrweg in die Selbstzerstörung erkannt. In der zumindest «rhetorischen Kriegsbereitschaft Europas» sieht er eine «Sehnsucht nach Selbstmord» wirken.
«Das zeigt sich an den Sanktionen, die Europa selbst am meisten schaden. Deutschlands Ausstieg aus der Atomenergie zeugt von suizidären Tendenzen, ebenso die unkontrollierte Masseneinwanderung. Auch der Wille, auf das russische Gas zu verzichten, ist selbstmörderisch.»
Aus seiner Sicht haben wir es mit «einer Krankheit der oberen Schichten zu tun». Danach gefragt, ob Russland faschistisch sei, sagte er, einen russischen Faschismus könne er nicht erkennen. Russland hat aus seiner Sicht eine funktionierende Marktwirtschaft und respektiert die Freiheit der Unternehmer. Die Menschen können sich frei bewegen, fügte er hinzu.
Er bezeichnete das politische System des Landes als eine autoritäre Demokratie: «Vom Staat geht viel brutale Gewalt aus.» Mit Propaganda, Einschüchterung und Repression habe die russische Führung mit Putin an der Spitze die Macht der Oligarchen eingeschränkt. Die russische Bevölkerung unterstütze Putin – im Kampf gegen die Oligarchen und im Krieg. Die Oligarchen sieht er nur noch im Westen als Problem.
Der Soziologe sagte, das russische Verhalten verstehe er, was nicht bedeute, dass er mit allem einverstanden sei. «Ein Rätsel bleibt für mich der Westen», so Todd, dessen Thema nicht Russland ist, sondern die Niederlage des Westens.
Europa stehe die Apokalypse erst noch bevor, resümierte der Historiker seine Analyse. In den USA werde «Trumps Revolution» als solche gedeutet. Dort habe die Apokalypse begonnen, sie enthülle die Wahrheit, dass der Ukraine-Krieg verloren ist.
«Nur die Europäer verweigern sich dieser Einsicht», sie träumten davon, den Krieg weiterzuführen. «Sie liefern Waffen und bezahlen, sind aber nicht in die Kriegsführung involviert.»
Zu der Ukraine sagte er, es sei ein bankrotter und korrupter Staat gewesen, der im Krieg seine Existenzberechtigung eroberte. Mit Kriegsende drohe er diese wieder zu verlieren. Die Russen ihrerseits haben laut Todd jegliches Vertrauen in den Westen verloren.
Donald Trump, der «sehr nett mit den Russen, aber völlig unberechenbar» sei, würden die Russen nicht ernstnehmen. Es sei für sie unvorstellbar, mit den US-Amerikanern zu verhandeln. Russland wolle sein Ziel erreichen, sagte der Autor nach seinem Besuch in Russland.
Putin müsse die Sicherheit für Russland garantieren, das bereits einen hohen Preis für diesen Krieg bezahlt habe. Der Soziologe ist der Meinung, dass Russland Odessa und die östliche Ukraine bis zum Dnjepr erobern werde. Der am linken Ufer des Flusses liegende Teil von Kiew werde russisch. Die Rest-Ukraine werde unter russischen Einfluss geraten oder neutralisiert.
Zu der angestrebten EU-Mitgliedschaft der Ukraine sagte Todd:
«Die Russen sind anders als die Amerikaner: Sie machen, was sie sagen.»
Auslöser des Krieges war aus seiner Sicht, dass sie keinen Nato-Beitritt der Ukraine haben wollten, erinnerte er. Jetzt sei es kaum möglich, Nato und EU auseinanderzuhalten, behauptete er.
«Russland wird Krieg führen, bis die Ukraine neutralisiert ist.»
Die aktuellen Verhandlungen schätzt er als Verschleierungsmanöver ein. Die US-Amerikaner würden den Krieg beenden und davon ablenken wollen, dass sie ihn verloren haben. Die Verlogenheit von Trump findet er unerträglich.
«Besonders unangenehm sind Trumps Krokodilstränen, seine Klagen über die Schrecken des Krieges und die vielen Toten auf beiden Seiten.»
Doch für Gaza ist laut Todd Trump verantwortlich, so, wie die USA für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sind. Die Russen als höfliche Menschen würden auf sein Spiel eingehen.
«Aber der Krieg wird an der Front entschieden.»
Die USA werden ihre Alliierten verraten, so wie sie auch Vietnam und Afghanistan verraten haben, ist sich der Historiker sicher.
Eine verkehrte Welt
Zu den führenden europäischen Ländern, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die sich desto kriegerischer geben, je deutlicher sich die Niederlage abzeichnet, sagte Todd: «Wir leben in einer verkehrten Welt». Er verglich das mit dem Karneval im Mittelalter, wo die Armen und Reichen die Rollen tauschen.
Die europäischen Regierungschefs würden mit Sanktionen drohen und ein Ultimatum stellen – «ohne über Armeen zu verfügen, die ihren Worten einen gewissen Nachdruck verschaffen könnten.» Die Sabotage von Nordstream 2 ist laut Todd der Beweis dafür, dass Deutschland erneut ein besetztes Land ist. «Seine Hauptstadt ist Ramstein, wo Amerikas größter Luftwaffenstützpunkt in Europa liegt.»
Die Ankündigung von Bundeskanzler Friedrich Merz, Deutschland werde die stärkste Armee in Europa haben, kommentierte er so:
«Damit ist eine neue Dimension der historischen Verantwortungslosigkeit erreicht.»
Wenn Deutschlands «gewaltiges industrielles Potenzial» in den Dienst der Aufrüstung gestellt werde, kann das aus seiner Sicht zur Bedrohung für Russland werden, das gegenwärtig mehr Waffen produziert als die USA. Der Übergang von Kanzler Olaf Scholz zu Merz verändere vieles – in psychologischer und geopolitischer Sicht, so Todd. Über den neuen Kanzler sagt er:
«Merz ist ein russlandfeindlicher Bellizist.»
Noch als Kandidat habe er sich dafür ausgesprochen, der Ukraine «Taurus»-Marschflugkörper zu liefern. Mit ihnen solle die Brücke zwischen Russland und der Krim zerstört werden. «Die Zeitgenossen scheinen die historische und moralische Bedeutung solcher Überlegungen nicht zu begreifen», stellt er fest und fragt:
«Was ist mit den Deutschen los?»
Für ihn ist es unvorstellbar, dass Deutschland, verantwortlich für 25 Millionen sowjetische Opfer im Zweiten Weltkrieg, jetzt wieder gegen Russland militärisch aktiv werden will. Er findet es als absurd, dass Europa verzweifelt versucht, den Mythos seiner Gründung – das Ende der Kriege zwischen den Nationen – zu beleben. Nun scheine Europa, fixiert auf seine pazifistischen und moralischen Werte, stattdessen bereit zu sein, den Krieg in der Ukraine zu verlängern.
Laut Todd ist die nun begonnene Aufrüstung nur in Deutschland möglich, da es die führende Industriemacht des Kontinents ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich Deutschland ausschließlich auf die Wirtschaft konzentriert. Die europäische Einigung sei überhaupt erst dadurch zustande gekommen, dass Deutschland auf eine eigene Armee verzichtete und eine pazifistische Haltung annahm.
Angst vor Deutschland
Aus Sicht des Historikers hat Deutschland mittlerweile die zentralen Positionen inne: Nach der Griechenland-Krise sei es zur führenden Kraft in Europa aufgestiegen. Er weist darauf hin, dass die Europäische Zentralbank in Frankfurt ansässig ist und Ursula von der Leyen die EU-Kommission in Brüssel leitet. Für ihn bedeutet dies ein zentralisiertes Europa, in dem Deutschland das Machtzentrum bildet. Und jetzt plane es auch noch, die mächtigste Militärmacht des Kontinents zu werden.
Es werde nicht von heute auf morgen passieren, aber «wenn sich in Deutschland der Wille zur militärischen Aufrüstung durchsetzt, wird Deutschland sein Projekt umsetzten». Macron sei bereit, mit ihm die Atomwaffen zu teilen, auch wenn sie im Moment in Deutschland tabu sind.
Zurzeit herrsche in Europa die Angst vor Russland vor. «Putin ist an Hitlers Stelle getreten.» Aber Russland sei weit weg. «Sehr schnell könnte es aber soweit sein, dass die Franzosen und die Polen mehr Angst vor den Deutschen als vor den Russen haben», sagte Todd der Weltwoche. Die Deutschen hält er für gefährlich: «Und wenn sie etwas anfangen, führen sie es zu Ende.»
Der Historiker schilderte ein Schreckensszenario, für das er sich im Voraus bei seinen deutschen Lesern entschuldigte. Die Gedenkfeiern zum 8. Mai, die an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern, hätten ihn zutiefst «beelendet». Seine beunruhigende Vision sei, dass die Deutschen aus einem übersteigerten Antifaschismus heraus vermeintliche Rechtsextremisten in Konzentrationslager stecken könnten.
«Alle reden vom Erinnern, vom Holocaust. Gleichzeitig vergisst man die Geschichte», beklagte der Historiker. Er merkte an, dass die Deutschen nur zu gut wissen, von den Russen besiegt worden zu sein. Wenn sich jedoch die Vorstellung durchsetze, nicht die Russen hätten gewonnen, würden sie sich einbilden, gar nicht verloren zu haben.
«Die Aufrüstung und Militarisierung Deutschlands in einem von ihm beherrschten Europa ist für Russland eine Bedrohung. In diesem Fall sieht die russische Doktrin den Einsatz taktischer Atomwaffen vor. Dann haben wir die Wiederholung des Zweiten Weltkrieges.»
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