Auch zur Zeit der Pest seien die Mächtigen im Angesicht einer Seuche, die das Leben aller akut bedrohte, hilflos gewesen, beschreibt Volker Reinhardt, Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit, in der NZZ die Situation im 14. Jahrhundert. Damit sei aber nicht nur ihre Position, sondern auch ihre Funktion und – für sie noch viel gravierender – ihre Legitimation aufs Höchste bedroht gewesen.
Herrschaft rechtfertige sich zu allen Zeiten, durch den daraus entspringenden Vorteil für die Beherrschten. Ohne einen solchen vorzeigbaren Nutzeffekt für das Gemeinwohl, verliere Macht ihre Grundlage und werde äusserst verwundbar und damit angreifbar, bestreitbar, ersetzbar.
Daraus folge ein eherner Grundsatz, an den sich alle Obrigkeiten bis heute strikt zu halten hätten: die eigene Rat- und Hilflosigkeit um keinen Preis zuzugeben, sondern im Gegenteil in Katastrophenzeiten den Ausstoss von Verordnungen, Dekreten, Anweisungen und Strafandrohungen um ein Vielfaches vermehren.
«Aktionismus um jeden Preis war und ist die Parole des Tages, nur keine Schwäche eingestehen, Handlungsbereitschaft unter Beweis stellen, Fürsorge zelebrieren, Erfolge vorzeigen», lautet eine Erkenntnis des Freiburger Professors.
Er zeigt weitere Parallelen zur heutigen Zeit auf:
«Die Herrschenden hatten keinerlei Einfluss auf das Sozialverhalten breiter Schichten. Diese Ohnmacht aber versuchten sie ebenso wie die Hilflosigkeit gegenüber der Pandemie durch hektisches Agieren um jeden Preis zu überspielen. Damit liegen die Ähnlichkeiten zur Corona-Situation von 2020 zutage. Niemand wird bestreiten, dass gewisse Basis-Sicherheitsregeln wie Handhygiene, Abstandhalten, Verzicht auf Bussi-Bussi-Bräuche und das Tragen von Masken, die im Frühjahr 2020 eingeführt wurden, vernünftig und angebracht sind.»
Doch zugleich zeichne sich immer deutlicher ab, dass der Staat wie 1348 an Grenzen stosse. Er könne weiterhin die Regeln für den öffentlichen Raum verschärfen und deren Einhaltung auch effizienter als damals, gleichwohl niemals flächendeckend, kontrollieren. Doch zeichne sich wie in Pestzeiten ab, dass er dadurch wütende Gegenreaktionen auslöse, nach dem Muster: Was ausserhalb der eigenen vier Wände verboten ist, wird innerhalb dieser geschützten Privatsphäre umso hemmungsloser nachgeholt, bis hin zu postpubertären Mutproben aller Art.
Einen Big-Brother-Überwachungsstaat, der durch das Schlüsselloch schnüffle, könne niemand wollen, geschweige denn totalitären Terror wie in der Nazizeit und unter dem Stalinismus.
Reinhardts Empfehlung an die Regierenden lautet:
«So stellt sich die Frage, ob der Staat, der schliesslich von demokratischem Konsens getragen wird, nicht heute endlich zugeben kann, was für frühneuzeitliche Oligarchien unaussprechlich war: dass er seine Ressourcen ausgeschöpft hat, vielleicht sogar zu weit, und dass es jetzt auf die Verantwortung der Zivilgesellschaft und die Vernunft des Individuums ankommt. Das wird schon jetzt von allen Seiten der Öffentlichkeit mantramässig gepredigt, kommt aber bei den Adressaten offensichtlich nicht an. Vielleicht würde das ehrliche Eingeständnis der obersten Funktionsträger und der diversen Expertengruppen, mit ihrem Handeln ihre Spielräume ausgereizt zu haben, die Akzeptanz der unabdingbaren Sicherheitsregeln fördern.»