«Liebe Freunde der politischen Plattentektonik, liebe Freundinnen der intellektuellen Alpenfaltungen», begrüsst der Schweizer Ex-Kabarettist Andreas Thiel die Zuhörer seiner Sendung «Yoyogaga» beim Online-Radio Kontrafunk. In der 66. Folge Ende November ging es um Demokratie und die «Politik des Nichteintretens».
Über dieses Thema hat Thiel schon mehrmals gesprochen und nahm nun den 11. Anlauf, um seine «Schlussbetrachtungen» zu präsentieren, mit geistreichen Bemerkungen und satirischen Einsprengseln. Dieser Mix prägte während über zwanzig Jahren seine öffentlichen Auftritte als Kabarettist. Heute versteht er sich eher als Feuilletonist, der je nach Medium die Gewichtung seiner Ingredienzien verändert. In der neuesten Folge spricht er über «die Toleranz der Intoleranz».
Als Thiel früher auf der Bühne stand, habe er 70 Prozent seines Schaffens auf den Unterhaltungsaspekt verwendet, den Rest auf den Inhalt, sagt er gegenüber Transition News. Kabarett sei erst dort gut, wo dieses Verhältnis beachtet werde:
«Wenn der Inhalt zu sehr in den Vordergrund rückt, fühlt sich das Publikum belehrt. Es ist dann keine Unterhaltung mehr, sondern eine Predigt.»
In «Yoyogaga» dreht er das Verhältnis um. 30 Prozent kommen der Satire zu, während der Grossteil dem Inhalt vorbehalten ist. Thematisch konzentriert sich Thiel auf den geistigen Überbau der materiellen Welt. Er bespricht alte Schriften, schöpft aus dem Fundus der Philosophie, interpretiert buddhistische Ideen.
«Weisheit kann man nicht improvisieren. Philosophie ist keine Stegreifkunst. Ich versuche, ein neues Licht auf alte Schriften zu werfen», beschreibt der Schweizer seine Herangehensweise.
Dabei geht es um Fragen, die überzeitlich sind, aber gerade in der gegenwärtigen Krisenzeit an Bedeutung gewonnen haben: Was ist Politik? Was ist Herrschaft, was Freiheit und Kultur?
Überwindung des Parlamentarismus
In dieser 66. «Yoyogaga»-Ausgabe beschäftigte sich Thiel mit der Frage, wie sich der Parlamentarismus überwinden liesse. Seine Antwort: mit Hilfe der künstlichen Intelligenz. Angst bräuchte man aber nicht zu haben, so der Radio-Feuilletonist. Der Mensch werde durch sie nicht ersetzt, weil Algorithmen nicht das mitbrächten, was ihn ausmacht: Gewissen und Intuition.
Da beides aber im Parlament keine Rolle spielt, lässt sich dieses sehr wohl durch künstliche Intelligenz austauschen, durch informationstechnologische Operationen, «die um einiges zuverlässiger und berechenbarer und vor allem um einiges weniger korrupt sein werden, als es unsere Politiker sind». Was der künstlichen Intelligenz ebenfalls abgehe, sei Logik, erzählt Thiel weiter.
Er versteht darunter die «Fähigkeit zu synästhetischen Assoziationen», die Fähigkeit, «beim Fahrradfahren das Flattern der Haare im Wind zu spüren und dabei an eine Schneewechte zu denken, die genauso geschwungen ist wie die Haare im Wind flattern. Oder die Fähigkeit, mit der Hand über die raue Borke einer Douglasie zu streichen und dabei die gleiche Zickzacklinie zu fühlen, die man bei einer Hummel beobachtet, wenn sie über eine Magerwiese fliegt».
Thiels Gedanken kommen auf leisen Sohlen, bringen dafür umso eindrucksvollere Bilder hervor. Er bedient sich einer plastischen Metaphorik und streut Anekdoten aus dem Alltag ein. Wo es passt, greift der Ex-Kabarettist zum Bühneninventar aus seiner Zeit im öffentlichen Rampenlicht.
Gecancelt noch vor «Corona»
Thiel begann seine Karriere 1997 und führte bis 2017 seine Programme weltweit an den verschiedensten Veranstaltungsorten auf, auch im Schweizer Fernsehen. Doch dann passierte ihm das, was viele seiner Kollegen erst während der Corona-Krise erlebten: Er wurde gecancelt. Für Aufregung hatte damals ein Essay gesorgt, in dem sich Thiel kritisch mit dem Koran auseinandersetzte.
Unmittelbar darauf wurde er als «Rassist» verschrien. Es folgten verbale Auseinandersetzungen zur besten Sendezeit, die dazu führten, dass sich der Fall zu einem der grössten Medienskandale in der Schweizer Geschichte ausweitete. Auf Kleinkunstbühnen konnte der Kabarettist nicht mehr auftreten, geschweige denn im Fernsehen. Ihm wurden Verträge gekündigt, er bekam Drohungen und musste eine gewaltige Diffamierungskampagne über sich ergehen lassen.
In der Zeit danach widmete sich Thiel philosophischen und spirituellen Themen. Seine Gedanken verarbeitete er zunächst in zahlreichen Essays, später in den Sendungen alternativer Medien, als die Menschen im Verlauf der Corona-Krise ein immer grösseres Bedürfnis entwickelten, sich ausserhalb des Mainstreams zu informieren.
Rehabilitation und eigene Sendung beim Kontrafunk
Während einige seiner Kollegen nun ebenfalls unter die Räder der Cancel Culture gerieten, erlebte Thiel eine Renaissance. Hatte die Verleumdungskampagne ihn zuvor isoliert, wurde nun offensichtlich, dass es sich auch damals schon um eine Methode handelte, Andersdenkende aus dem Debattenraum zu verdrängen.
Thiel war rehabilitiert und bekam wieder Interviewanfragen, wenn auch im Bereich der Gegenöffentlichkeit. Aber dieser wuchs beständig mit riesigen Schritten. Beinahe täglich entstanden neue Formate und der Schweizer Künstler wurde gerne als Gast eingeladen, unter anderem in den Podcast «Indubio» des Publizisten und Journalisten Burkhard Müller-Ullrich. Als dieser im Sommer 2022 das Online-Radio Kontrafunk ins Leben rief, tat sich für Thiel die Möglichkeit auf, in einer eigenen Sendung geistreiche Essayistik und Satire zusammenzuführen.
Seitdem präsentiert er jede Woche eine «Yoyogaga»-Folge, ohne sich auf ein festes Konzept festzulegen. Es sei immer noch ein Experiment, sagt er. Was ihm besonders gefällt, ist die relativ lange Sendezeit. 50 Minuten hat er, um seine Gedanken auszubreiten. Thiel empfindet das als Herausforderung und Luxus zugleich. «Normalerweise bekommt man nur wenige Minuten», berichtet er aus seiner Medienerfahrung.
Der einstige «Mainstream»-Kabarettist fühlt sich in seiner neuen Umgebung sehr wohl. Zurück auf die Bühne will er nicht mehr und erst recht nicht ins Fernsehen.
«Die heutigen Politiker kann man nicht mehr toppen», sagt er. «Wenn das Original lustiger ist als die Parodie, kann man in diesem Bereich nichts mehr machen.»
Thiel schreibt regelmässig Kolumnen in der Weltwoche und in Die Freien.
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