Die angegriffene Sowjetunion
galt für die USA und Großbritannien
nicht als Bündnispartner.
Werner Rügemer, Publizist
Liebe Leserinnen und Leser
Heute vor 83 Jahren überfiel das faschistische «Großdeutsche Reich» die Sowjetunion – vertragsbrüchig, aber dennoch angekündigt. Mit dem «Unternehmen Barbarossa» begann ein Raub- und Vernichtungskrieg gegen ein Land, den es vorher so nicht gab.
Dieser deutsche Raub- und Vernichtungskrieg sollte nach Vorstellungen der Wehrmachtsgeneräle nur wenige Wochen dauern. Daraus wurde nichts: Er forderte bis zu seinem offiziellen Ende am 8. Mai 1945 allein auf sowjetischer Seite etwa 27 Millionen Tote.
Ich habe dazu einen Beitrag verfasst, auf den Sie mit diesem Newsletter aufmerksam gemacht werden. An dieser Stelle will ich mich auf einen Aspekt daraus beschränken: Die westlichen Interessen an dem faschistischen deutschen Überfall.
Bis heute wird der Sowjetunion vorgeworfen, dass sie 1939 mit dem faschistischen Deutschland einen Nichtangriffsvertrag mit geheimem Zusatzprotokollen geschlossen hatte. Dabei wird die Vorgeschichte weggelassen.
«Wir waren das letzte europäische Land, das einen Nichtangriffspakt mit Deutschland geschlossen hat», erklärte der russische Historiker und Politiker Wjatscheslaw Nikonow in einem Interview im Mai 2020. Er ist der Enkel des früheren sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow, der 1939 den sowjetisch-deutschen Nichtangriffsvertrag unterschrieb.
«Das Problem war, dass England und Frankreich wollten, dass die Sowjetunion und Hitler-Deutschland kämpfen. Zu diesem Zweck haben sie alles getan. Es gab eine regelrechte Beschwichtigungspolitik gegenüber dem aggressiven Deutschland. Gleichzeitig erweckten sie den Anschein von Verhandlungen mit der Sowjetunion. Aber niemand wollte ein Abkommen mit uns schließen.»
Das weist auf die westlichen Interessen am faschistischen deutschen Überfall auf die Sowjetunion hin. Der Nichtangriffsvertrag schien dem Land Zeit zu geben, sich auf den erwarteten Krieg vorzubereiten.
Bevor die führenden Kräfte im Westen mit dem überfallenen Land die Anti-Hitler-Koalition bildeten, hofften sie, dass das auch mit ihrer Hilfe wieder aufgerüstete Deutschland als «Bollwerk gegen den Bolschewismus» dient. Auf diese Rolle hatte bereits 1920 der US-amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen hingewiesen.
In seiner 1920 veröffentlichten Rezension des Buches von John Maynard Keynes «Die ökonomischen Folgen des Friedens» über den Versailler Vertrag beschrieb Veblen klar, worum es bei dem Vertrag eigentlich ging: Nämlich «das reaktionäre Regime in Deutschland wiederherzustellen und es zu einem Bollwerk gegen den Bolschewismus zu machen».
Die «zentrale und verbindlichste Bestimmung» des Vertrages und des Völkerbundes sei «eine uneingestandene Klausel» gewesen, «durch welche sich die Regierungen der Großmächte zur Unterdrückung Sowjetrusslands zusammentun». Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges hätten das seit 1917 kommunistische Russland als Bedrohung ihres eigenen grundlegenden Systems gesehen.
Die deutsche Oberschicht sollte verschont bleiben und das Elend der Kriegsfolgen nur die einfachen Deutschen treffen, erkannte Veblen. Der Zorn der Unterschicht sollte dann der Nährboden sein, auf dem die herrschenden Kreise in Deutschland im Sinne ihrer westlichen Gesinnungsgenossen ein reaktionäres, antibolschewistisches Regime errichten konnten.
«In ihrem Bestreben, die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung zu sichern – die Welt für eine Demokratie der Investoren sicher zu machen – haben sich die Staatsmänner der Siegermächte auf die Seite der kriegsschuldigen deutschen abwesenden Eigentümer und gegen deren untergebene Bevölkerung gestellt.»
Zu diesem Urteil kam Veblen Jahre bevor der Faschismus sich in Deutschland breit machte und 1933 an die Macht gehievt wurde. Danach zeigte sich der Westen gegenüber dem deutschen Faschismus weiterhin sehr nachsichtig und ließ ihm fast alles durchgehen: von der Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes 1936, über die Annexion der Tschechoslowakei 1938 bis hin zum Überfall auf Polen 1939.
Der Historiker und Gewerkschafter Peter Scherer schrieb dazu 1989 in seinem Buch «Freie Hand im Osten – Ursprünge und Perspektiven des Zweiten Weltkrieges»:
«Nicht der Vertreter des deutschen Imperialismus wurde zwischen 1935 und 1938, ja bis 1940 hinein, von Großbritannien und Frankreich hofiert, sondern der Kommunistenfresser und Antibolschewik. Ihm hätten sie ganz Ost- und Südosteuropa ausgeliefert, wenn er sich nur auf diese Rolle des ‹Exterminators›, des politischen Kammerjägers und Massenmörders hätte beschränken lassen.»
Zu den westlichen Interessen im Hintergrund gehört außerdem Folgendes:
«Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse war, sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.»
Das sagte der US-Geostratege und -Analytiker George Friedman am 4. Februar 2015 vor dem «Chicago Council on Global Affairs» in Bezug auf die Vorgänge in der Ukraine. Das gilt eben nicht nur heute: Friedman sprach von der «Urangst der USA», «dass deutsches Kapital und deutsche Technologien sich mit russischen Rohstoffen und russischer Arbeitskraft verbinden – eine einzigartige Kombination, vor der die USA seit Jahrhunderten eine Höllenangst haben».
Um das zu verhindern, bedienten sich die US-amerikanischen und die britischen Eliten des faschistischen Deutschlands und dessen Vernichtungswahns gegenüber der Sowjetunion – so wie sie heute die Ukraine dafür benutzen. Die westlichen Interessen zeigten sich auch bei der «Zweiten Front», die im Juni 1944 endlich eröffnet wurde. Das gehört zu der Vorgeschichte und den Hintergründen des 22. Juni 1941 – und es darf nicht in Vergessenheit geraten, auch wegen der etwa 27 Millionen Toten, die die Sowjetvölker und ihre Nachfolger in Folge des faschistischen Überfalls zu beklagen haben.
Ich wünsche Ihnen ein friedliches und entspanntes Wochenende samt Lesespaß und Wissensgewinn mit den Beiträgen auf Transition News!
Herzliche Grüße
Tilo Gräser
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