Während der Corona-Krise schlug die Stunde der Fotografen. Auf den zahlreichen Großdemonstrationen fanden sie aussagekräftige Motive, um Geschichte authentisch oder aus kritischem Blickwinkel einzufangen. Doch die Zeit der Massenproteste ist vorbei und für viele Vertreter dieses Fachs stellt sich die Frage, was sie abbilden sollen, zumindest wenn sie in ihren Arbeiten den gesellschaftlichen Umbruch zum Ausdruck bringen wollen.
Der Fotograf Marco Struckmann fand bereits während der Corona-Krise einen interessanten Ansatz. Auch er tummelte sich zwar auf Demonstrationen und Schweigemärschen, konzentrierte sich aber im Wesentlichen auf Alltagsszenen, Momente, in denen zugleich das große Ganze zum Vorschein kommt. Die Fotografien zeigen das gewöhnliche Leben während der Lockdown-Zeit.
Da fahren Menschen mit aufgezogener Medizinmaske Fahrrad, oder sie kommen ebenfalls vermummt vom Einkauf zurück, stehen vor Testzentren, verlieren sich in der Leere des stillgewordenen Stadtdschungels. Struckmann hat seine Kamera in Supermärkte hineingehalten oder sie auf riesige Plakate gerichtet, auf denen Prominente für den «niedlichen» Piks werben. Er hat die Realität so eingefangen, wie sie sich damals darbot.
Arne Schmitt spielte Klavier bei der Vernissage
Rund 100 dieser Arbeiten präsentierte er kürzlich in der Alten Handelsschule in Leipzig. Ganze neun Monate dauerte die Ausstellung. Zur Vernissage am 20. April kam sogar der Musiker Arne Schmitt und spielte Klavier, wenn auch nicht auf dem berühmt gewordenen Piano. Obwohl die Ausstellung es nicht explizit aussprach, wurden die Themen sofort ersichtlich. Es ging um Zwang und Konformität, aber auch um Widerstand und Zusammengehörigkeitsgefühl – zumindest auf den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen.
Zur Fotografie kam Struckmann in genau jener Zeit, aus Interesse und aus dem Umstand, dass es während des Lockdowns kaum etwas zu tun gab. Also griff er zur Kamera und probierte sich aus, sich an dem orientierend, was er an der Abendakademie HGB Leipzig über Bildaufbau und -komposition gelernt hatte. Als neugieriger Autodidakt fing er schon bald an, auch Videos zu drehen.
Zu Beginn sei es ihm vor allem um Informationsverbreitung gegangen, erklärt Struckmann. Er habe Menschen aufklären wollen, aktivistisch und politisch engagiert. Mit der Zeit rückten schließlich ästhetische Gesichtspunkte in den Vordergrund, auch wenn er bis heute weiter Menschen interviewt, um Informationen zu verbreiten.
Zwölfminütiger Dokumentarfilm über Lockdown-Zeit
Solche Aufnahmen finden sich auf seinem YouTube-Kanal, den er ebenfalls in jener Lockdown-Zeit aufbaute. Aus seinem mittlerweile reichhaltigen Videomaterial ist zudem ein kurzer Dokumentarfilm entstanden. Dieser war ebenfalls Teil der Ausstellung, bei der eben nicht nur in Fotografien an die prägende Zeit zwischen Mitte Dezember 2020 und Ende März 2021 erinnert wurde, sondern auch in Bewegtbildern. In knapp zwölf Minuten belebt Struckmann die Atmosphäre jener Zeit in seiner Stadt Leipzig.
Naturaufnahmen und unaufgeregte Szenen vermitteln eine ungewohnte wie ermattende Ruhe, die sich in jenen Tagen im öffentlichen Raum ausbreitete. Das Gefühl der Ungewissheit schwingt in den Bildern mit. Es steigt noch nach vier Jahren auf, gräbt aus dem Humus des Vergessenen persönliche Erlebnisse aus, spült einschneidende Szenen an die Oberfläche, lässt den psychischen Druck von damals noch einmal spüren.
In einen Zustand der Aufgeregtheit gleitet man trotzdem nicht ab. Der Kurzfilm versetzt die Betrachter in eine bedächtige, ja kontemplative Stimmung, was auch an der musikalischen Untermalung liegt. Beruhigende sphärische Klänge ermöglichen einen gleichsam meditativen Erinnerungsprozess, in dem erbauliche Gefühle geweckt werden. Er habe die Schwere der damaligen Zeit bewusst rausnehmen wollen, erklärt Struckmann.
Auftritt von Yann Song King bei der Finissage
Wie seine Arbeiten ankamen, erfuhr der Künstler erst auf der Finissage am 14. Dezember. Das Datum war bewusst gewählt worden. An dem Tag begann 2020 der zweite Lockdown in Sachsen. Die Besucher konnten sich noch gut daran erinnern und sahen sowohl im Kurzfilm als auch in den Fotografien die damalige Zeit gut eingefangen. Die Resonanz sei durchaus positiv ausgefallen, sagt Struckmann, für den es nicht ganz einfach war, einen Ausstellungsort zu finden.
Bereichert hat die Finissage der Dresdner Singer-Songwriter Yann Song King. Mit seinen humoristischen wie kritischen Liedern war dieser während der Corona-Zeit quasi zum Kultmusiker der außerparlamentarischen Opposition geworden. Einige dieser Stücke bot er am 14. Dezember dar und erheiterte das Publikum, sodass über dem Abschluss des neunmonatigen Erinnerungsprozesses ebenfalls eine gewisse Leichtigkeit schwebte.
Seine Arbeiten will Struckmann in einem Buch bündeln. Es soll eine Art Chronik werden, eine Zusammenführung unterschiedlicher Quellen mit möglicherweise einem Vorwort des Psychoanalytikers Hans-Joachim Maaz. Zunächst aber steht eine gemeinsame Corona-Gedenkausstellung mit anderen kritischen Künstlern in Dresden an.
«Ist das Alles? Schon vergessen?», heißt sie. Struckmann beteiligt sich mit zwei Kurzfilmen, mit jenem aus seiner eigenen Ausstellung und einem weiteren, der den Titel «Corona-Kunstintervention» trägt. Zu sehen ist eine Performance auf offener Straße mit drei Figuren. Jede von ihnen repräsentiert einen sozialen Typen während der Lockdown-Zeit.
Da gibt es zum einen den Befehlsempfänger, der gehorcht und sich in Konformität übt. Der Bettler symbolisiert hingegen die maßnahmenbedingte Verarmung und Insolvenzwelle. In der dritten Figur wird der freiheitsliebende Kritiker erkennbar. Ein solcher ist auch Struckmann, der dies in seinen Arbeiten unaufgeregt, aber bestimmt demonstriert.