Nachtrag
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 18. Juli 2021. Inzwischen hat uns auch das Kinderspital Zürich geantwortet. Dessen Leiter der Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene, Prof. Christoph Berger, schrieb, dass sie im April 2021 Einzelfälle mit RSV gesehen hätten. Im Mai seien es rund 40 und im Juni etwa 90 Kinder mit RSV-Infektion gewesen. Dieser Trend würde sich im Juli fortsetzen, so Berger. In den Monaten Mai bis Juli hätten sie in anderen Jahren keine RSV Infektionen gesehen, im Gegensatz zu Dezember bis Februar.
Mittlerweile berichtete auch 20 Minuten über steigende RSV-Infektionen bei Kindern in der Schweiz. Überfüllte Spitäler müssten sogar Kinder abweisen.
Christoph Berger ist übrigens auch Präsident der Eidgenössischen Impfkommission. In dieser Funktion sprach er sich kürzlich für eine Benachteiligung von Nicht-Geimpften aus, wie der Blick berichtete. Unter anderem soll das Covid-Zertifikat breiter zum Einsatz kommen. Ungeimpften müsse man «gewisse Nachteile zumuten», habe ihn die SonntagsZeitung zitiert. Ginge es nach Berger, soll ausserdem für das Gesundheits-, Schul- und Gastropersonal eine Zertifikatspflicht eingeführt werden, so der Blick.
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Am 28. Juni 2021 berichteten wir über einen aussergewöhnlichen Anstieg von respiratorischen Synzytial-Virus-(RSV)-Fällen in Israel. Üblicherweise würden solche Fälle nur im Winter auftreten, doch die gegenwärtigen Zahlen würden denen der Winter vergangener Jahre entsprechen, berichteten israelische Ärzte. Allerdings seien RSV und andere Viren im Winter 2020-2021 nicht vorhanden gewesen. Aus Australien und Neuseeland kamen ähnliche Berichte.
Das Bundesamt für Gesundheit BAG schreibt zu RSV: «RS-Viren verursachen im Herbst und Winter viele Erkältungen sowie Fälle von akuter Bronchitis bei Säuglingen und Kleinkindern, welche zum Teil zu Hospitalisationen führen. Eine Impfung gibt es zurzeit nicht.» Kleine Kinder können daran sogar sterben.
Aufgrund dieser Berichte aus anderen Ländern hat Corona-Transition einige Schweizer Spitäler gefragt, ob sie ebenfalls einen aussergewöhnlichen Anstieg von RSV-Fällen bei Kindern verzeichnen. Und, falls ja, ob sie diesen quantifizieren können. Dr. med. Julia Bielicki, Leitende Ärztin Pädiatrie und Infektiologie am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), antwortete uns:
«Ja, wir sehen einen sogenannten «aussersaisonalen» Anstieg dieser Infektionen, zum Teil mit schweren Verläufen, die einen Aufenthalt auf der Intensivmedizinischen Station notwendig machen.»
Dr. Bielicki sendete uns auch folgende Grafik, die sich auf das UKBB bezieht. Sie wies darauf hin, dass für Juli 2021 nur die Fälle bis und mit 11. Juli aufgeführt sind. Ein weiterer Anstieg sei zu erwarten.
Quelle: Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)
Auf unsere Nachfrage, ob sie eine Erklärung hätte für diesen «aussersaisonalen» Anstieg von RSV-Infektionen bei Kindern, antwortete Dr. Bielicki :
«Es ist anzunehmen, dass es aufgrund der Aufhebung bzw. Lockerung von Massnahmen gegen das Coronavirus zu vermehrten Übertragungen anderer Viren kommt. Anscheinend waren die Massnahmen nicht nur für Coronavirus sondern auch für andere Viren effektiv, die als sogenannte Tröpfcheninfektionen übertragen werden.
Durch eine längere Periode mit wenig RSV Übertragungen gibt es jetzt eine grössere Anzahl empfänglicher Personen, die noch keine oder eine unzureichende Immunität gegenüber RSV haben. Dies ist vor allem bei Kindern wahrscheinlich – Säuglinge und junge Kleinkinder sind ja in die Pandemie geboren.
Dies würde nahelegen, dass RSV durch die Kombination von Lockerung und mehr empfänglichen Kindern eine Chance bekommt, aussersaisonal kräftig zuzulegen. Letztendlich verstehen wir aber nicht ganz, warum es nicht einfach zu einer grösseren Welle im Winter kommt, sondern zu dieser aussergewöhnlichen ‹Sommerspitze›»
Die Frage, ob sie ebenfalls einen aussergewöhnlichen Anstieg von RSV-Fällen bei Kindern oder bei Erwachsenen beobachten, beantworte das Universitätsspital Genf folgendermassen:
«Seit Mitte April verzeichnet die pädiatrische Notaufnahme in der Tat eine Rekordzahl von Patienten, mit einer besonders hohen Präsenz von Winter-Atemwegsviren. Es ist uns jedoch nicht möglich, diese zu quantifizieren.»
Bezüglich der Erwachsenen könnten ihre Spezialisten unsere Fragen nicht beantworten, da es sich um ein gewöhnliches Virus handeln würde, schrieb das Universitätsspital Genf. Es werde nicht systematisch danach gesucht, da sein Vorhandensein die dem Patienten vorgeschlagene Behandlung nicht verändern würde. Pädiatrische Notfälle hätten einen anderen Ansatz, da RSV bei Säuglingen eine schwere Lungenentzündung verursachen könne.
Das Inselspital des Universitätsspitals Bern bejahte unsere Frage ebenfalls und verwies auf ihren Dashboard sowie auf die entsprechende Seite des Fachverbands Pädiatrie Schweiz.
Quelle: Pädiatrie Schweiz, Epidemiologie von RSV-Infektionen
Der Mediensprecher des Inselspitals Bern, Daniel Saameli, schrieb, dass sie im Winter 2020/2021 keinen einzigen RSV-Fall gehabt hätten. In den vorangehenden Winterhalbjahren seien es hingegen 200 bis 300 pro Jahr gewesen. Im Juni 2021 hätte es etwa fünf bis zehn Hospitalisationen pro Woche gegeben, in den Vorjahren indessen keine. In üblichen Wintern hätten sie maximal 30 bis 35 Hospitalisationen pro Woche.
Saameli begründet die Zunahme damit, dass diese Atemwegserkrankungen, die einen Winter lang praktisch kaum vorgekommen seien, jetzt einfach zeitversetzt auftreten würden. Sie hätten vor allem für die RSV-Infektion mit dieser Möglichkeit gerechnet und sich entsprechend vorbereitet. Dies, weil in Australien beobachtet wurde, dass die RSV-Saison im australischen Winter ausblieb, dann aber bereits im nächsten Sommer ausbrach.
Eine Rolle spiele sicher auch, dass die Covid-Massnahmen zurzeit zurückgefahren werden, was Mobilität und Kontaktverhalten in der Bevölkerung fördere, so Saameli. Gerade RSV sei sehr ansteckend, und zwar sowohl über die Atemluft wie über direkten Kontakt.
Die Medienverantwortliche des Kinderspitals Zürich teilte uns mit, dass sie die Anfrage an den Spezialisten weiterleiten werde. Dieser werde antworten, sobald er Zeit finde. Das ist noch nicht geschehen, doch aus obiger Karte von Pädiatrie Schweiz geht hervor, dass es in Zürich – wo die Daten vom Kinderspital und vom Triemlispital berücksichtigt werden – den markantesten Anstieg von RSV-Fällen bei Kindern in der Schweiz gab. Zu berücksichtigen ist, dass die Daten nur bis zum 5. Juli reichen.
Das Kinderspital Luzern sagte, dass sie leider keine Zahlen liefern könnten und verwies ebenfalls auf den Fachverband Pädiatrie Schweiz für einen repräsentativen Überblick. Die Kantonsspitäler Baden und Bellinzona hätten keinen aussergewöhnlichen Anstieg von RSV-Fällen beobachtet. Das kantonale Labor in Bellinzona meldete für das Tessin vereinzelte Fälle doch bestätigte, dass sie üblicherweise im Sommer gar keine hätten.
Ausserordentlich viele RSV-Fälle auch in Australien und Neuseeland
Auf der Südhalbkugel ist es momentan zwar Winter, die übliche Jahreszeit für das Auftreten von RSV. Doch in Neuseeland hätte es etwa dreieinhalb mehr RSV-Fälle als durchschnittlich in der gleichen Periode, berichtete The Guardian.
Australien hätte schon im Sommer eine hohe Rate von respiratorischen Synzytial-Viren bei Kindern verzeichnet, meldete The Guardian Ende Mai. In Victoria seien die Krankenhäuser überfüllt. Experten zufolge sei es ein «grösserer Notfall als Covid». Die Gründe seien einen Rückstau bei der Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung nach dem ausgedehnten Lockdown in Victoria im Jahr 2020, da die Patienten die Suche nach Hilfe verzögert hätten, sowie der Anstieg an psychischen Problemen bei Kindern.
In Neuseeland, wo es ebenfalls aussergewöhnlich viele Fälle von respiratorischen Synzytial-Viren bei Kindern gebe, würden es Experten der «Immunitätsschuld» zuschreiben, wie The Guardian schrieb. Das Phänomen der «Immunitätsschuld» trete auf, weil Massnahmen wie Lockdowns, Händewaschen, soziale Distanzierung und Masken nicht nur bei der Kontrolle von Covid-19 wirksam seien. Sie würden auch die Ausbreitung anderer Krankheiten unterdrücken, die sich auf ähnliche Weise übertragen, darunter Grippe, Erkältung und weniger bekannte Atemwegserkrankungen.
Im letzten Winter hätten die Lockdowns in Neuseeland zu einer 99,9-prozentigen Reduktion der Grippefälle und einer 98-prozentigen Reduktion von RSV-Fällen geführt. Und sie hätten nahezu die Häufung von Todesfällen verhindert, die Neuseeland normalerweise im Winter erlebe. «Dieser positive Kollateraleffekt auf kurze Sicht ist willkommen, da er eine zusätzliche Überlastung des Gesundheitssystems verhindert», zitiert The Guardian ein Kollektiv französischer Ärzte aus einer Studie vom Mai 2021 über die Immunitätsschuld.
Langfristig könne dies jedoch zu eigenen Problemen führen. Wenn bakterielle und virale Infektionen nicht unter den Kindern zirkulieren, würden sie keine Immunität entwickeln, was später zu grösseren Ausbrüchen führe.
«Der Mangel an Immunstimulation ... induzierte eine ‹Immunitätsschuld›, die negative Konsequenzen haben könnte, wenn die Pandemie unter Kontrolle ist und [die Interventionen der öffentlichen Gesundheit] aufgehoben werden», schrieben die Ärzte. «Je länger diese Perioden der ‹viralen oder bakteriellen niedrig-Exposition› sind, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit von zukünftigen Epidemien.»
Stationen seien mit Säuglingen mit einem potenziell tödlichen Atemwegsvirus überflutet. In Wellington würden derzeit 46 Kinder wegen Atemwegserkrankungen wie RSV stationär behandelt. Eine Reihe von ihnen seien Säuglinge, und viele würden Sauerstoff benötigen. Auch andere Krankenhäuser würden einen Anstieg der Fälle verzeichnen, der ihre Ressourcen strapaziert. Einige würden Operationen verzögern oder Spielzimmer in klinische Räume umwandeln.
Kommentar Corona-Transition
Schon im Frühling 2020 warnten kritische Ärzte, dass die Massnahmen zu einer Schwächung des Immunsystems führen könnten. Diese Häufung von RSV-Infektionen bei Kindern könnte ein konkreter Hinweis darauf sein.