Die derzeitig praktizierte Digitalisierung der Bildung zu stoppen oder zumindest zu reduzieren – das fordert der Neuropsychologe Lutz Jäncke in einem Interview. «Man kann den Kindern und Jugendlichen nicht einfach ein Tablet in die Hand drücken und sagen: Jetzt mach mal!», so Jäncke gegenüber der Schweizer SonntagsZeitung.
Anlass sind die Ergebnisse der neuesten Pisa-Studie, der zufolge Kinder und Jugendliche auch in der Schweiz immer schlechter lesen und schreiben können. Danach zeigen rund ein Viertel der Kinder in der Schweiz dramatisch schlechte Lese-Ergebnisse.
«Das ist einfach zu erklären», sagt Jäncke in dem Interview:
«Wie gut man liest und schreibt, hängt von der Übung ab. Wenn das nicht konsequent geübt wird, nehmen diese Fähigkeiten ab.»
Der Neuropsychologe empfiehlt das Lesen von Büchern als «gutes Training, um lesen und schreiben zu verbessern». Das helfe, sich auf längere Texte zu konzentrieren. Das Gehirn werde darauf trainiert, Zusammenhänge abzuspeichern und sich Grammatik- und Rechtschreib-Regeln zu merken.
«Man muss auch mehrere Sätze nacheinander im Gedächtnis behalten, um überhaupt den Sinn einer Geschichte nachzuvollziehen. Das ist etwas komplett anderes, als wenn man einen Post liest.»
Das Schreiben und Lesen auf sogenannten Social-Media-Plattformen wie WhatsApp habe sich komplett von Grammatik und Rechtschreibung entkoppelt, so Jäncke. Das «Schreiben nach Gehör», wie es unter anderem an Schweizer Schulen praktiziert wird, ist aus seiner Sicht eine «sehr ineffiziente Lernform». Er fordert, wieder mehr Diktate schreiben zu lassen.
«Wiederholen ist die Mutter des Lernens. Jede Fähigkeit, die man im Gehirn etablieren will, muss wiederholt werden. Das heisst: Natürlich muss man Diktate machen! Und nicht nur einmal, sondern relativ häufig. Natürlich muss man auch Aufsätze schreiben lassen. Und zwar regelmässig.»
Der Neuropsychologe macht darauf aufmerksam, dass digitale Geräte wie Tablets die Kinder im Unterricht ablenkten. Er spricht sich stattdessen für das Schreiben mit der Hand aus. Zahlreiche Studien hätten nachgewiesen, dass Kinder mit Stift und Papier besser schreiben und lesen lernen.
Das habe mit den dabei beanspruchten Bereichen des Gehirns zu tun. Jene Bereiche, welche die Motorik der Hand kontrollieren, lägen direkt neben den Spracharealen des Hirns und stünden mit diesen in engem Kontakt. Dagegen werde beim Tippen auf einer Tastatur mit beiden Händen ständig zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte gewechselt, was das Hirn mehr belaste und zu mehr Fehlern führe.
«Wenn man von Hand schreibt, brennen sich die Schriftzeichen, die für das Lesen elementar sind, viel deutlicher in das Gehirn ein. Die Schülerinnen und Schüler sollen wieder mehr von Hand schreiben, um richtig lesen und schreiben zu lernen, statt ständig alles in ein Handy oder einen Computer zu tippen.»
Jäncke antwortet auf die Frage, ob digitales Lesen flüchtiger als das analoge auf Papier sei, das sei statistisch nicht belegt. Er sieht einen anderen Grund für die Flüchtigkeit des Gelesenen: «Wir sind digital ein bisschen verdorben.» Dafür würden die zahlreichen Ablenkungen auf Smartphones, Tablets und Computern sorgen.
Deshalb sei er für ein Revival der Handschrift in den Schulen, als «Entschleunigungsmittel, das hilft, uns zu konzentrieren. Für Kinder ist das essentiell.»
Im Interview wird auch darauf hingewiesen, dass die skandinavischen Länder als bisherige Vorreiter in der Digitalisierung der Bildung inzwischen auf die Bremse treten. Dort würden Forscher inzwischen erklären, es gebe keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, wonach die Computer das Lernen förderten. Forschungsergebnisse würden stattdessen zeigen, dass sich digitale Bildung negativ auf den Wissenserwerb der Kinder auswirke.
«Tatsächlich sind die Wirkungen und Nebenwirkungen digitaler Medien auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse wissenschaftlich oft ungeklärt», stellen Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in einem gemeinsamen Aufruf fest.
«Vielmehr verdichten sich die wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien.»
Die Wissenschaftler fordern «im Sinne der Fürsorgepflicht öffentlicher Bildungseinrichtungen» ein Moratorium der Digitalisierung, insbesondere der frühen Bildung bis zum Ende der Unterstufe (das heisst bis Klasse 6). Aus ihrer Sicht müssen zuerst die Folgen der digitalen Technologien abschätzbar sein, «bevor weitere Versuche an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen mit ungewissem Ausgang vorgenommen werden».
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