In ihrem Beitrag für Haaretz zeichnet die israelische Journalistin Hagar Shezaf ein düsteres Bild der Notlage, in der sich palästinensische Gemeinden im Westjordanland angesichts der eskalierenden Siedlergewalt seit Beginn des Gazakriegs am 7. Oktober befinden. Sie schildert die Erfahrungen von Menschen wie Ibrahim Mohammed Malihat, dessen Dorf Maghayyir A-Dir durch das Vordringen der Siedler stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er erklärte:
«Heute ist von hier bis Jericho alles leer. Wir gehen nicht nach unten oder nach Süden. Alles ist nur noch für die Siedler da; es gibt kein Gebiet mehr, wo die Herden weiden können.»
Die Schafe würden sie nur zwischen den Häusern mitnehmen, so Malihat weiter. Wenn sie sich von den Häusern entfernten, würden sie die Siedler mit fixen Kameras sehen und maskierte Männer schicken:
«Sie sagen uns: Wir sind die Polizei und wir sind die Armee.»
Malihats Zeugnis steht exemplarisch für die allgemeine Realität, mit der viele palästinensische Gemeinden konfrontiert sind. Einst blühendes Weideland, das den Lebensunterhalt und die Gemeinschaften sicherte, ist nun unzugänglich geworden. Es wird von Siedlern kontrolliert, die palästinensische Hirten einschüchtern, belästigen und sogar angreifen. Die abschreckende Wirkung dieser Kontrolle hat dazu geführt, dass ganze Hirtengemeinschaften gewaltsam vertrieben wurden und ihre Häuser, ihr Land und ihre Lebensweise zurückgelassen haben.
Seit Beginn des Krieges hat die Menschenrechtsorganisation B’Tselem Shezaf zufolge 18 Hirtengemeinschaften dokumentiert, die aus ihren Häusern im gesamten Westjordanland vertrieben wurden.
Die Journalistin erwähnt den Forscher Dror Etkes von der Nichtregierungsorganisation Kerem Navot, der die israelische Siedlungs- und Landverwaltungspolitik im Westjordanland überwacht. Laut Etkes’ Schätzungen gibt es derzeit etwa 125.000 Dunam (31.000 Hektar) in dem Gebiet, das Palästinenser aus Angst vor Gewalt und aufgrund der von den Siedlern und der Armee auferlegten Beschränkungen de facto nicht betreten dürfen.
Die Vertreibung der Gemeinschaft von Wadi al-Siq ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Gewalt und die Drohungen, denen die Palästinenser nach dem 7. Oktober ausgesetzt sind. Die Eskalation der Feindseligkeiten zwang die Bewohner laut Shezaf, zu fliehen und in Behelfsunterkünften am Rande anderer Dörfer Zuflucht zu suchen. Die Vertreibung habe sie nicht nur ihrer Häuser beraubt, sondern auch ihr Gefühl von Sicherheit und Stabilität zerstört und sie in ständiger Angst um ihre Zukunft zurückgelassen.
Abd el-Rahman Mustafa Ka’abneh erzählt, am 11. Oktober hätten sie die Kinder und Frauen zu Verwandten in einem anderen Dorf gebracht, um dort zu schlafen. Sie hätten gedacht, es würde nur für zwei oder drei Tage sein und dann würden sie sie zurückbringen. Am nächsten Tag, als einige der Dorfbewohner damit beschäftigt waren, ihre Sachen zu packen, seien Siedler und Soldaten gekommen und hätten sie angegriffen. Mehrere Bewohner und Aktivisten, die gekommen waren, um ihnen zu helfen, seien festgenommen und stundenlang im Dorf festgehalten worden. Einige seien geschlagen und misshandelt worden, darunter, wie Haaretz bereits berichtete, schwere Schläge, Verbrennungen und versuchte sexuelle Übergriffe. Ka’abneh erinnert sich:
«Sie sagten uns, wir hätten eine halbe Stunde Zeit zu gehen, und die Leute rannten weg. Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Zuerst gingen wir zu Fuß weiter. Es gab kleine Kinder, die von ihren Eltern getragen wurden, und es gab junge Leute, die sich im Wadi versteckten. Als es dunkel wurde, gaben uns Leute aus den Dörfern Ramun und Taybeh Zelte.»
Die Unfähigkeit der israelischen Armee, die Sicherheit dieser Gemeinschaften zu gewährleisten, verschlimmert ihre Lage noch weiter und macht sie praktisch obdachlos und anfällig für weitere Gewalt. Selbst Versuche, ihr Hab und Gut zurückzuerlangen, schlagen fehl, da die Besitztümer geplündert und zerstört wurden.
Die finanziellen Folgen der Vertreibung sind erschütternd: Die Bewohner sind gemäß Shezaf gezwungen, ihr Vieh zu verkaufen und belastende Kredite aufzunehmen, um zu überleben. Der Verlust von Weideland untergrabe nicht nur ihre wirtschaftliche Lebensfähigkeit, sondern verstärke auch ihre Abhängigkeit von externer Hilfe, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Rechtliche Möglichkeiten wie Petitionen zur Auflösung der nahe gelegenen Außenposten würden zwar einen Hoffnungsschimmer bieten, aber die allgemeine Stimmung sei nach wie vor von Verzweiflung und Unsicherheit geprägt.
Aus den Berichten der Journalistin ergibt sich ein Bild der systematischen Unterdrückung und Enteignung. Die erwähnten Einzelschicksale fügen sich in ein breiteres Muster von Siedlergewalt und die Ausbreitung illegaler Außenposten ein. Die absichtlichen Angriffe auf palästinensische Gemeinden spiegeln laut Shezaf eine konzertierte Aktion wider, um ihre Präsenz auf dem Land auszulöschen und den Kreislauf von Enteignung und Verzweiflung weiter zu verfestigen. Angesichts dieser Widrigkeiten seien die palästinensischen Bewohner gezwungen, ständig wachsam zu sein und in Angst vor weiterer Gewalt und Vertreibung zu leben. Malihat sagte abschließend:
«Den Siedlern gelang es, sie zu vertreiben, und das hat ihren Appetit geweckt. Seitdem kommen sie vermehrt zu uns.»
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