Nach einem Urteil des Schweizer Bundesgerichts müssen zwei Kinder gegen ihren ausdrücklichen Willen und gegen den Willen der Mutter gegen Masern geimpft werden. Das Gericht erlaubt der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) sogar, die Impfung mit polizeilicher Hilfe und körperlicher Gewalt durchzusetzen.
Das Bundesgericht hatte 2019 bei der Masernimpfung die Regel entwickelt, dass Eltern mit unterschiedlichen Auffassungen von Seiten der KESB gemäss Impfempfehlung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zu behandeln sind.
Die Behörden neigen nun also dazu, aus einer Nichtimpfung eine Kindeswohlgefährdung zu konstruieren. Ungeimpfte Kinder seien letztlich als gefährdet in Ihrem Kindeswohle zu betrachten.
Das Urteil wurde bisher nicht vollzogen, denn es scheint, dass es weitere Rechtsmittel dagegen gibt, die auch ergriffen werden. Wie ist diese Entwicklung einzuordnen?
Es entspricht der Mission der KESB, «geeignete Massnahmen zum Schutz des Kindes» zu treffen (Art. 307 Abs. 1 ZGB), wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe sorgen. So weit so gut. Allerdings wird hier der Begriff der Kindswohlgefährdung sehr stark gedehnt, wenn aus einer fehlenden Masernimpfung gleich auf eine Gefährdung geschlossen wird und die KESB entscheiden darf.
Allerdings tritt die KESB nur dann auf den Plan, wenn sich die Eltern uneinig sind – im vorliegenden Fall ist der Vater für eine Impfung, die Mutter dagegen. Ob die Eltern getrennt oder geschieden sind und wer das Sorgerecht hat, scheint keine Rolle zu spielen. Im beschriebenen Fall handelt es sich um eine alleinerziehende sechsfache Mutter, deren jüngste zwei Kinder sich nicht impfen lassen wollen, weil sie beobachten, dass die älteren, geimpften Kinder öfters krank werden als sie.
Zitat aus dem Bundesgerichtsurteil:
«Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung hat die zuständige Behörde im Falle der Uneinigkeit in Impffragen anstelle der Eltern zu entscheiden (BGE 5A 789/2019 E. 6.2.6).»
Will man eine solche Situation vermeiden, dann sollten sich Mutter und Vater unter allen Umständen in dieser Frage einigen. Schaltet der eine Partner die KESB ein, dann entscheidet diese gemäss BAG-Impfplan.
Sind sich die Eltern einig, dann gibt es in der Schweiz nach wie vor keine Impfpflicht für Kinder – so wie bei Erwachsenen.
Dieses Urteil ist aber aus verschiedenen Gründen – höflich ausgedrückt – extrem problematisch:
- Der Wille der Kinder spielt keine Rolle. Das Bundesgericht schützt hier das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht mehr. Warum wird das Motto «my body my choice» bei Abtreibungen derart virulent vertreten, bei Impfungen aber nicht? Umso bemerkenswerter, um nicht zu sagen: schizophrener, ist die Argumentation wenn man bedenkt, dass bei Covid der Bund gerade mit dem Argument der körperlichen Selbstbestimmung Kinder ab zehn Jahren die Wahl gelassen hat, sich auch gegen den ausdrücklichen Willen der Eltern «impfen» zu lassen.
- Man wird das Gefühl nicht los, dass hier in kleinen Schritten etwas erreicht werden soll, das sich durch den freien Willensbildungsprozess und durch die demokratischen Institutionen des Landes nie erreichen liesse: Die Bevormundung der gesamten Familie durch die KESB, auch wenn beide Eltern gegen eine Impfung sind.
Die Initiative Stopp Impfpflicht würde diese Unsicherheiten beseitigen. Zu diskutieren wäre in diesem Licht auch erneut die Abschaffung der mächtigen KESB, einer nicht demokratisch gewählten Behörde – und die Rückkehr zu demokratisch gewählten Miliz-Vormundschaftsbehörden.
Dieses Urteil betrifft ausdrücklich die Masernimpfung. Bei der Covid-«Impfung» ist es so, dass diese aktuell im BAG-Impfplan nicht enthalten ist. Deshalb stellt sich das Problem dort im Moment nicht. Es wäre aber interessant zu wissen, wie das Bundesgericht bei einer anderen Impfung aus dem BAG-Impfplan entscheiden würde, zum Beispiel Tetanus. Dort ist die «number needed to treat» noch viel höher als bei den Masern und es braucht schon viel Fantasie, bei einer fehlenden Tetanusspritze eine Kindeswohlgefährdung zu wittern.
Wie sah es in der Vergangenheit aus, gerade in Bezug auf die Masern? Wie hat sich die Situation entwickelt?
Kontroversen um Impfungen sind nichts Neues, aber früher sah man das entspannter, gerade in Bezug auf die Masern. Neu sind seit der Corona-Zeit die Heftigkeit, mit der sie geführt werden, sowie Instrumente wie die Zertifikatspflicht, mit der der Bund versucht, seine «Impfempfehlung» durchzusetzen.
Die Ende der 1980er gegründete Organisation Schweizer Arbeitsgruppe für differenzierte Impfungen verstand sich als eine Art wissenschaftliches Korrektiv zu diesen Empfehlungen. Per Ende 2022 hat sie sich aufgelöst, wie die Schweizer Ärztezeitung berichtete.
Die Webseite der Schweizer Arbeitsgruppe impfo.ch mag zwar nicht mehr auf der Höhe der Zeit gewesen sein, bot aber eine Fülle von interessanten und nützlichen Informationen und Hinweisen. Und sie wurde von praktisch tätigen Ärzten geschrieben und nicht von Gesundheits- und Pharmafunktionären.
Aber der Reihe nach: Einem Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgend, lancierte die Schweiz 1987 die Ausrottungskampagne gegen die Kinderkrankheiten Masern, Mumps und Röteln (MMR). Diese Strategie wurde von vielen Ärzten als bedenklich empfunden. Sie organisierten sich und gründeten die Arbeitsgruppe für differenzierte Impfungen.
Tatsächlich «griff der bernische Gesundheitsdirektor Kurt Meyer die offenen Fragen der Arbeitsgruppe auf», wie es in einem Beitrag der Schweizerischen Ärztezeitung heisst. Und diese hätte befunden, dass «die für die landesweite Propagation in sämtlichen Bevölkerungskreisen getroffene Vereinfachung in der Argumentation nach einer differenzierteren Information verlangt».
Daraufhin sei das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern mit der bekannten Studie «Die Impfstrategien gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR-Impfung) im Lichte der epidemiologischen Literatur» beauftragt worden.
Diese Studie kam dann zum Schluss, dass die Ausrottung der Masern «kaum ein realistisches Ziel» sei und dass die Kampagne zu gefährlichen Krankheitsausbrüchen in höherem Alter führen würde.
Genau an diesem Punkt befinden wir uns in der Schweiz heute: Während früher die Masern endemisch waren und praktisch jedes Kind sie ohne Nachwirkungen durchmachte, trifft dieses Virus heute oft ungeimpfte erwachsene Personen. Bei Erwachsenen ist der Krankheitsverlauf ungleich schwerer. Damit hat sich auch die Wahrnehmung der Krankheit in der Öffentlichkeit verändert.
Sogar der Leiter des US-amerikanischen Advisory Committees for Immunization Practices der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) erklärte in den 80er Jahren, er beurteile die Ausrottung der Masern als gefährlich, weil sie innert fünf Jahren vollzogen sein müsse, um Rückfallepidemien vorzubeugen.
Das Problem bestand nun darin, dass für eine Ausrottung der Masern eine, wie es offiziell heisst, Durchimpfungsquote von 95 Prozent nötig sei. Es entstand also Druck, praktisch alle Eltern zur Einwilligung zu nötigen, was eine individuelle Impfentscheidung zunehmend schwierig machte.
Offiziell müssen Ärzte in der Schweiz «Vorbehalte, Bedenken und Ängste» der Eltern im Bezug auf Impfungen ernst nehmen, aber unfruchtbaren Polarisierungen entgegenwirken.
«Zu oft werden Eltern, die kritische Fragen zu den Vakzinen stellen, als Problempatienten wahrgenommen,» schrieb die Schweizerische Ärztezeitung im vergangenen Jahr.
In einem anderen Beitrag dieser Publikation schrieb Ursina Pally Hofmann, ehemalige Leiterin des Rechtsdienstes der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH), im Jahr 2020: «Grundsätzlich muss der Patient über die Art und Risiken der in Aussicht gestellten Impfung so aufgeklärt werden, dass er in Kenntnis der Sachlage einwilligen kann.» Dabei «ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle Risiken und Nebenwirkungen bekannt sind».
Das Bundesgericht wiederum hielt fest, dass «die Aufklärung (…) keinen für seine Gesundheit schädlichen Angstzustand hervorrufen» darf (BGE 117 lb197).
Dass in der Hitze des Gefechtes während der Covid-Impfkampagne auf sämtliche Differenzierungen verzichtet wurde und Menschen, die auf eine differenzierte Impfentscheidung setzten oder die Covid-Impfung ablehnten, massiver Diskriminierung und Angstmacherei ausgesetzt wurden, kann derweil insbesondere in der Schweiz nicht an den Finanzen liegen. Denn dort sind die Ärzte in der weltweit einzigartigen Lage, dass sie für Impfgespräche adäquat bezahlt werden.
In Deutschland führen die «Ärzte für individuelle Impfentscheidung» ihre Website weiter.
Die Zeiten haben sich geändert - in dieser Hinsicht nicht zum Guten!