In einer Debatte im Rahmen der Sondersession des Schweizer Nationalrats am 6. Mai 2025 betonte die Innenministerin, Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (SP, Jura), die revidierten Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO (IGV) würden weder die Souveränität der Schweiz beeinträchtigen noch gesetzliche Anpassungen erforderlich machen. Auch finanzielle Mehrbelastungen seien nicht zu erwarten.
Diese Einschätzung des Bundesrats steht jedoch in starkem Kontrast zu rechtlichen Einschätzungen unabhängiger Expertinnen und Experten – und wirft zentrale Fragen zur demokratischen Mitbestimmung in der Schweiz auf. Das schrieb und begründete das Aktionsbündnis freie Schweiz (ABF Schweiz) am Donnerstag in zwei ausführlichen Artikeln (siehe hier und hier).
Gemäß Baume-Schneider handelt es sich bei den IGV-Änderungen um «technische Anpassungen», nicht um politische Entscheidungen. Diese würden keine Gesetzesänderung bedingen und auch keine neuen finanziellen Verpflichtungen mit sich bringen. Die Gesundheitsdirektorenkonferenz und 23 von 24 Kantonen unterstützten die Änderungen. Doch laut einer juristischen Analyse von ABF Schweiz ist diese Sichtweise nicht haltbar. Die IGV-Revisionen vom Juni 2024 verpflichten die Vertragsstaaten unter anderem zur Einrichtung permanenter Kapazitäten im Bereich Risikokommunikation – inklusive der Bekämpfung von Desinformation. Solche Maßnahmen greifen direkt in die Meinungs- und Medienfreiheit ein und bedürften in der Schweiz zwingend einer gesetzlichen Grundlage.
Das Epidemiengesetz (EpG) soll laut Bundesamt für Gesundheit im Zuge seiner laufenden Revision an die IGV angepasst werden. Dieser direkte Bezug zeigt, dass sehr wohl gesetzgeberische Änderungen nötig sind. Damit widerspricht der erläuternde Bericht des Bundesamtes für Gesundheit zur IGV-Vernehmlassung der Aussage der Bundesrätin, wonach die Änderungen keine Gesetzesanpassungen nötig machten.
Die Frage der demokratischen Kontrolle steht ebenfalls im Raum. IGV-Anpassungen gelten laut WHO-Verfassung automatisch als angenommen, wenn sie nicht innerhalb von 18 Monaten ausdrücklich abgelehnt oder mit Vorbehalt versehen werden. Dieser Automatismus entzieht sich der üblichen parlamentarischen Kontrolle in der Schweiz – obwohl laut Bundesverfassung internationale Verträge mit «wichtigen Bestimmungen» zwingend dem fakultativen Referendum unterstehen.
Der Bundesrat sieht hier jedoch keinen Handlungsbedarf. Auf die Zwischenfrage von Nationalrat Rémy Wyssmann, nach welchen Kriterien der Bundesrat die Relevanz völkerrechtlicher Verträge beurteilt, konnte Baume-Schneider keine konkreten, dokumentierten Bewertungsgrundlagen nennen. Sie sprach von einer «Verhältnismäßigkeitsabwägung» – konkrete, transparente Kriterien fehlen bislang.
Ein weiteres Problem stellt die Finanzierung dar. Die IGV verlangen nicht nur neue Strukturen und Kommunikationsmittel, sondern auch einen Beitrag zum globalen Koordinierungs- und Finanzmechanismus. Wie dieser künftig ausgestaltet wird, ist unklar. Sicher ist nur: Die Umsetzung neuer internationaler Vorgaben ohne Mehraufwand ist in der Praxis kaum realistisch. Der Bund gibt dazu keine verbindlichen Zahlen an – ein nachvollziehbarer Finanzplan fehlt.
Kritik gibt es auch an der Trennung zwischen «technischer» und «politischer» Bedeutung der IGV. Diese Klassifikation erscheint künstlich, zumal die Regelungen zu Impfverteilung, Informationspflichten und staatlicher Kommunikation eindeutig politische Relevanz besitzen. Dass solche Eingriffe in die Rechte der Kantone und die Grundrechte der Bevölkerung als «technisch» abgetan werden, widerspricht der schweizerischen Staatsrechtstradition.
Die öffentliche Debatte über die IGV-Revisionen berührt damit fundamentale Fragen des Verhältnisses von internationalem Recht und nationaler Souveränität. Während der Bundesrat in seiner Kommunikation auf Beruhigung setzt, zeigt der Faktencheck von ABF Schweiz: Die Auswirkungen der IGV-Änderungen auf Rechtsstaat, Finanzen und Grundrechte sind weitreichender als offiziell dargestellt. Auch wenn die WHO als globale Gesundheitsinstanz gestärkt werden soll – die schweizerische Demokratie darf dabei nicht zur Randnotiz werden.