Der Journalist Jaques Pilet veröffentlichte letzte Woche auf der Westschweizer Plattform Bon pour la tête eine kritische Analyse zu den Wahlen zum EU-Parlament. Diese könnten weitreichende Auswirkungen haben – insbesondere in drei wesentlichen Bereichen: der Wirtschaft, der Funktionsweise der EU und der möglichen Erweiterungen der Union. Und das dürfte sich auch auf das Nichtmitglied Schweiz auswirken.
1. Wirtschaftliche Herausforderungen und deren Auswirkungen
Die europäischen Volkswirtschaften stehen vor erheblichen Herausforderungen. Deutschland, als eine der führenden Wirtschaftsnationen und eng mit der Schweiz verflochten, kämpft seit dem Boykott der russischen Lieferungen mit hohen Energiekosten, einer Abwanderung von Unternehmen in die USA und der starken Konkurrenz durch China, besonders im Bereich der Elektrofahrzeuge. Frankreich kämpft mit Defiziten und sozialen Spannungen, während Italien und Spanien trotz einer optimistischen Stimmung ebenfalls hohe Staatsschulden zu tragen haben.
Im Gegensatz dazu haben sich die osteuropäischen Länder seit ihrem EU-Beitritt wirtschaftlich stark entwickelt, doch zeigen sich erste Anzeichen eines Abschwungs. Alle Länder stehen zudem im technologischen Wettbewerb mit den USA und China.
Die zukünftige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments wird maßgeblich bestimmen, ob der Schwerpunkt auf Wissen und Unterstützung der Privatwirtschaft gelegt wird oder ob eine interventionistische grüne Politik verfolgt wird, die zu wirtschaftlichem Rückgang führen dürfte. Die derzeitige Konzentration auf Rüstungsaufträge und Unterstützung für die Ukraine wird immense Kosten verursachen, was andere notwendige Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung in Frage stellen könnte. Die Entscheidungen des neuen Parlaments werden direkte Folgen für die Schweizer Wirtschaft haben, da deren Wohlstand stark von einer gesunden europäischen Wirtschaft abhängt.
2. Interne Dynamik und politische Machtverteilung innerhalb der EU
Innerhalb der EU gibt es zwei gegensätzliche Tendenzen: Die Befürworter eines stärkeren, vereinten Europa möchten die Kompetenzen des Europäischen Rates und der Kommission erweitern, um eine kohärentere und stärkere EU zu schaffen. Im Gegensatz dazu steht der wachsende Nationalismus, der mehr Macht für die Nationalstaaten und weniger für die EU-Institutionen fordert.
Der Erfolg nationalistischer Parteien wie der Front National von Marine Le Pen in Frankreich, der AfD in Deutschland, Fidesz in Ungarn, PiS in Polen und den Fratelli unter Giorgia Meloni in Italien könnte die EU-Politik stark beeinflussen, auch wenn sie keine absolute Mehrheit erreichen dürften.
Die Schweiz steht mitten in Verhandlungen zu einem dritten Paket von bilateralen Verträgen mit der EU. Eine geschwächte EU-Behörde könnte für die Schweiz zunächst vorteilhaft erscheinen, doch die nationalistischen Strömungen sind oft nicht geneigt, Drittstaaten wie die Schweiz großzügig zu behandeln. Wie sich das Wahlergebnis auf einen möglichen Verhandlungsabschluss und die Chancen der Schweizer Verhandlungsstrategie auswirkt, liegt zunächst völlig im Dunkeln.
3. Erweiterungspläne der EU und ihre potenziellen Folgen
Die EU hat signalisiert, dass sie weitere Länder auf dem Balkan und in Osteuropa aufnehmen möchte. Die Aufnahme dieser neuen Mitglieder würde die Dynamik der EU erheblich verändern und neue Herausforderungen mit sich bringen. Die Schweizer, die durch zahlreiche Abkommen eng mit der EU verbunden sind, wären von diesen Veränderungen stark betroffen, ohne jedoch direkt mitbestimmen zu können.
Der Erweiterungsprozess beginnt vermutlich im Osten mit der Ukraine und Moldawien, obwohl diese Länder derzeit nicht alle notwendigen Anforderungen erfüllen. Die Aufnahme der Balkanstaaten bleibt ebenfalls eine Herausforderung. Nicht zuletzt, da nicht alle Länder vollständig davon überzeugt sind, ob sie diesen Weg wirklich gehen wollen.
Sylvie Goulard, eine ehemalige EU-Abgeordnete, kritisiert in ihrem Buch «L’Europe enfla si bien qu’elle creva» (ungefähr: «Europa schwoll an, bis es platzte») die Erweiterungspläne und sieht darin eine Verwässerung der EU zu einer bloßen internationalen Organisation. Sie glaubt, dass die USA diese Erweiterung vorantreiben, um das westliche Lager zu stärken, jedoch auf Kosten der Selbstbestimmung Europas. Goulard plädiert dafür, die EU zu vertiefen und durch variable Kooperationskreise zu ergänzen, ähnlich den bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU.
Fazit: Die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament werden auch die Schweiz beeinflussen. Daher wäre es ratsam, die Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und sich auf mögliche Veränderungen vorzubereiten.
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