«Wir haben bereits eine Involvierung einzelner NATO-Staaten», sagt Jacques Baud, früherer Schweizer Oberst und Nachrichtendienst-Mitarbeiter, mit Blick auf die Diskussion um NATO-Truppen im Krieg in der Ukraine. Er äussert sich dazu in einem Gespräch, das kürzlich vom Portal apolut veröffentlicht wurde.
In der Ukraine sei keine NATO-Kommandostruktur aktiv, erklärt Baud, aber Kräfte einzelner NATO-Länder, «mehrheitlich Polen, USA und Deutschland und Frankreich». Sie seien in die Versorgungsinfrastruktur der ukrainischen Truppen einbezogen, über Basen in Nachbarländern nahe der Grenze zur Ukraine.
Baud nennt das Beispiel der französischen Radhaubitzen «Caesar», die an die Ukraine geliefert wurden. Diese würden im Fall eines Treffers oder eines anderen Schadens zu einer Basis in Polen gebracht und dort von französischen Spezialisten repariert werden. Sie seien damit in die logistische Kette integriert «und spielen eine Rolle in den Kämpfen», betont der Militärexperte.
Er spricht von einem «doppelten Spiel» der französischen Regierung, die offiziell behaupte, Frankreich sei nicht involviert. Das sieht er auch im Zusammenhang mit der von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angestossenen Debatte um NATO-Bodentruppen in der Ukraine.
Baud verweist dabei auch auf den russischen Angriff auf eine Sammelstelle für Söldner in Charkiw Mitte Januar. Dabei sind Berichten zufolge dutzende französische Söldner getötet worden. Der Schweizer Ex-Nachrichtendienstmitarbeiter sagt, darunter könnten auch Experten für Flugabwehrsystem aus Frankreich gewesen sein.
Warnung vor russischen Reaktionen
Es sei möglich, dass Russland solche Unterstützungsbasen wie für die «Caesar»-Systeme in Polen durch Kommandotrupps angreifen und zerstören könnte. Solche Trupps seien auf dem Gebiet der Westukraine sehr aktiv. Und: Das würden auch NATO-Länder in Russland machen.
Es könnte auch Angriffe auf Kommandoposten westlicher Einheiten in der Ukraine geben, auch wenn diese nicht direkt in die Kämpfe einbezogen wären. Baud verweist auf ein Beispiel in Syrien, wo Russland einen Kommandobunker samt aller darin befindlichen NATO-Militärs aus der Türkei, Grossbritannien und Frankreich zerstört habe.
Das westliche Bündnis habe sich öffentlich nicht dazu geäussert, da die Militärs offiziell nichts in Syrien zu suchen hatten, und weil sie zudem den Islamischen Staat (IS) unterstützten. Der Schweizer Ex-Offizier hält einen solchen Fall auch in der Ukraine für möglich, warnt aber davor, dass damit die Situation verschärft werde.
Er zeigt sich besorgt darüber, dass, anders als die «extrem rationellen» Entscheidungen der russischen Seite, die westlichen Länder keine rationalen Antworten auf die Situation hätten. Sie würden nur Russland «ruinieren» wollen, ohne zu wissen, wofür und mit welchem Ziel. Und sie würden nur den Krieg fortsetzen wollen, «ohne zu wissen, wohin das führt».
Aus Bauds Sicht reagiere die westliche Politik «sehr emotional», wenn gesagt werde, Russland dürfe nicht siegen. Dabei sei Russland inzwischen in einer «erfolgreichen Position». Wie der Westen das ändern wolle, sei «total unerklärbar».
Westen zynisch gegenüber Urkaine
«Man will einfach kämpfen» – doch das bedeute, dass die Ukrainer an der Front kämpfend sterben würden. Die westlichen Truppen, in welcher Form auch immer, würden sich immer auf Unterstützungsleistungen beschränken und im Hinterland bleiben.
«Das sind ukrainische Leben. Das heisst, wir sind extrem zynisch gegenüber der Ukraine. Dieser Vorschlag von Macron scheint mir in die gleiche Richtung zu gehen.»
Zugleich würde mit NATO-Soldaten in der Kampfzone das Risiko einer direkten Konfrontation mit Russland gesteigert. Das werde von westlichen Politikern wie dem französischen Präsidenten unterschätzt.
Baud widerspricht im dem apolut-Gespräch den Meinungen, die mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sei der Grund für den russischen Einmarsch:
«Der Grund für die russische Intervention ist die Lage im Donbass.»
Er verweist auf das Dekret von Präsident Wolodymyr Selenskyj vom 24. März 2021, dass das Ziel ausgab, die Krim und den Donbass zurückzuerobern. Darauf habe sich die ukrainische Armee vorbereitet, wofür bis Januar 2022 bis zu 150’000 Soldaten an der Linie zum Donbass konzentriert wurden.
Schachspieler im Kreml
Eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zu verhindern, das habe die russische Führung immer auf politischem und diplomatischem Weg versucht. Allerdings nutze sie für dieses politische Ziel nun auch die entstandene militärische Situation. Das habe Russlands Präsident Wladimir Putin unter anderem im Interview mit dem US-Journalisten Tucker Carlson deutlich gemacht.
Baud sieht Putin und die Führung in Moskau als «Schachspieler», die mehrere Schritte vorausdenken: «Die wissen, wie wir reagieren.» Dagegen seien die westlichen Politiker keine Schachspieler und würden nur kurzfristig, von Schritt zu Schritt denken.
Als Beispiel dafür nennt er die westlichen Sanktionen, die ohne entscheidende Wirkung auf Russland blieben – «weil, die haben alles vorgedacht». Die Sanktionen seit 2014 hätten Moskau klargemacht, wie der Westen reagiere. Dieser könne solche Entwicklungen dagegen nicht vorwegnehmen.
Der Ex-Nachrichtendienst-Mitarbeiter warnt davor, dass die westlichen Regierungen nur selten die Konsequenzen ihres Handelns bedenken. Das sei unter anderem bei den Kriegen gegen den Irak und in Afghanistan oder in Libyen der Fall gewesen.
«Wir haben keine Fähigkeit, in der Tiefe zu denken. Wir agieren auch nur auf der Oberfläche.»
Der Westen verliert den Respekt in der Welt
Er bewertet die US-Militärmaschinerie als «extrem ineffizient». Sie habe zwar weltweit Basen und das weltweit grösste Rüstungsbudget, aber könnte beispielsweis derzeit die Ukraine nicht mehr unterstützen. Nur ein kleiner Teil der Gelder gehe in die eigentlichen militärischen Kapazitäten, der grössere Teil vor allem in die Strukturen.
In dem Gespräch geht Baud auch auf den Krieg Israels im Gaza-Streifen ein. Das sei «die dümmste und die schlimmste Art, gegen den Terrorismus zu kämpfen». Das Geschehen im Nahen Osten sei mit dem in der Ukraine verknüpft: Zum einen verliere der Westen aufgrund seiner Rolle dabei immer mehr Respekt in der Welt.
Zum anderen hätten beide Konflikte, wie auch andere, verhindert werden können, «wenn man das internationale Recht angewendet hätte». Der Westen wolle anderen Ländern und Gesellschaften weiterhin seine Vorstellungen als alleingültige aufzwingen. Aber: «Das funktioniert im Rest der Welt nicht mehr».
Angesprochen auf anscheinend zunehmend unfähigere Politiker in westlichen Staaten, sagt der Militärexperte, das sei wahrscheinlich auch eine Generationenfrage. Baud kann auf zahlreiche internationale Einsätze für die UNO und die NATO verweisen. Er beklagt, dass beispielsweise in Frankreich derzeit Politiker wie Macron regieren, die zwar eine hohe formale Ausbildung hätten, denen aber unter anderem die Lebenserfahrung fehle.
«Sehr nah zur Idiotie»
Es handele sich meist um «Apparatschiks», die in den Parteien nicht wegen ihrer Kompetenz, sondern wegen «günstiger Konstellationen» aufsteigen. Er nennt als Beispiel die jüngsten Aussagen der deutschen Bundesaussenministerin Annalena Baerbock zu den Sanktionen gegen Russland. Diese seien zwar unwirksam, aber trotzdem wichtig, so die Ministerin unlängst in New York.
«Wir sind sehr nah zur Idiotie», kommentierte Baud diese Aussagen und fügte hinzu: «Dass unsere Länder von solchen Leuten geführt werden, scheint mir eine Absurdität.» Er beklagte, dass eine vernünftige Beurteilung der Lage fehle, um Entscheidungen zu treffen. Diese Aufgabe komme auch den Nachrichtendiensten zu, die diese aber kaum noch erfüllten.
«Scheinbar sind die Nachrichtendienste total abwesend von dem Entscheidungsfassungsprozess», stellt er fest und erklärt weiter: «Der Nachrichtendienst sollte nicht politisch sein. Er sollte total neutral sein innerhalb von einem Staat. Und egal, was die Politik rechts oder links da spielt, das sollte für einen Nachrichtendienst für die Beurteilung der Lage überhaupt keine Rolle spielen. Er sollte nicht erklären, wer gut oder wer schlecht ist.»
Die westlichen Führungskräfte seien in der Folge überrascht, dass Russland nicht verloren und die Ukraine die Krim nicht zurückerobert habe. Das sei «alles voraussehbar» gewesen, betont Baud. Dies zeige, dass die Entscheidungsfindung in westlichen Ländern nicht mehr funktioniere, was er für «extrem gefährlich» hält.
Die gegenwärtige politische Führung im Westen sei «sehr schlecht» und funktioniere nur nach dogmatischen Grundsätzen, nicht nach den Prinzipien der Vernunft. Mit Blick auf die Debatte um NATO-Truppen in der Ukraine sagt er, dass ihm dieser Mangel an Vernunft Angst mache:
«Die denken nicht weiter als der erste Schritt. Deshalb sind wir meines Erachtens bedroht. Ich fühle mich mehr bedroht von unseren Führern als von den Russen. In der Tat.»
Buchtipp:
Jacques Baud: «L’ART DE LA GUERRE RUSSE – Comment l’occident a conduit l’Ukraine à l’échec»
Verlag Max Milo 2024. 368 Seiten; ISBN: 9782315013050; 24,90 Euro
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