Der Wall-Street-Veteran Jamie Dimon sieht Gewitterwolken über den USA aufziehen. Der langjährige CEO von J.P. Morgan sieht eine Stagflation als unvermeidlich an. Schon in einem Interview mit dem Wall Street Journal hatte er sich in diese Richtung geäußert – dass Amerika mit voller Kraft auf eine Wiederholung dessen zusteuert, was es in den 1970er Jahren erlebte, das heißt: eine Krise aus heiterem Himmel.
Tatsächlich wurde die damalige Euphorie der Politiker in kürzester Zeit von einer düsteren Realität abgelöst. Plötzlich war alles anders: Arbeitslosigkeit und Inflation stiegen an, während die Nachfrage am Boden lag. So eine Situation wird in makroökonomischen Lehrbüchern als Stagflation bezeichnet – eine Kombination von wirtschaftlicher Stagnation und Inflation.
Auf der Konferenz Strategic Decisions von AllianceBernstein doppelte Dimon nun nach: Er könne sich nicht vorstellen, dass die massiven fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen der letzten fünf Jahre zu etwas anderem als einer Stagflation führen könnten.
Auf die Frage nach der Gesundheit des Bankensektors im Allgemeinen sagte er, dass er und das J.P. Morgan-Team «Szenarien» sowohl für eine harte als auch für eine weiche Landung planen.
Der Konsens der Analysten und Beobachter geht davon aus, dass die US-Notenbank für eine weiche Landung sorgen wird, das heißt: für einen wirtschaftlichen Abschwung, der nicht zu einer Rezession führt.
«Wenn wir eine weiche Landung haben und die Preise bleiben, wo sie sind, ist alles in Ordnung», sagte Dimon. Der Wall-Street-Veteran machte aber deutlich, dass er das nicht für wahrscheinlich hält:
«Wenn es zu einer harten Landung kommt, d. h. zu einer Stagflation, werden wir eine Menge Stress und Druck auf das System erleben: von den Banken bis zu den fremdfinanzierten Unternehmen. Und darauf sind die Menschen nicht vorbereitet», fügte er an.
«Viele von Ihnen in diesem Publikum haben noch nie einen Zinssatz von 6% für eine zehnjährige Anleihe gesehen. Ich weiß nicht, warum Sie denken, dass es nicht möglich ist. Es ist möglich. Ich zum Beispiel glaube, dass die Möglichkeiten viel größer sind, als andere denken», so der 68-Jährige.
In der Tat ist es mehr als zwei Jahrzehnte her, dass die Anleiherenditen 6% überschritten haben, aber vor Ende der 1990er Jahre waren solche Höchststände normal.
Der Vorstandsvorsitzende, der kürzlich seine Absicht bekundete, in den nächsten fünf Jahren aus dem Spitzenamt von J.P. Morgan auszuscheiden, erklärte, dass sich die Banken seiner Meinung nach auf eine Reihe von Entwicklungen vorbereiten müssten, darunter auch auf einen lange Zeit eines anhaltend hohen Leitzinses. Dimon leitet J.P. Morgan seit 2006. Und er versteckt seine Besorgnis über die Art und Weise, wie die USA ihre hohen Schulden abbezahlen werden, immer weniger.
Auch wenn andere Ökonomen argumentieren, dass die Ausgaben der letzten fünf Jahre notwendig waren, und Dimon dem vielleicht sogar zustimmt, bleibt die Tatsache bestehen, dass die Schuldenquote der USA derzeit bei etwa 122% der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandprodukt BIP) liegt. Das ist mehr als das Doppelte von dem, was der Maastricht-Vertrag in der Eurozone zulässt. Zudem gibt es unter Ökonomen einen Konsens, wonach ab etwa 90% die Schulden in den Wachstumszahlen spürbar sind.
Und wegen dieses hohen Schuldenstandes ist Dimon überzeugt, dass es zu einer unangenehmen «Überraschung» – einer Stagflation – kommen dürfte.
«Wenn ich mir das Ausmaß der fiskalischen und monetären Stimulierung in den letzten fünf Jahren ansehe (…), wie können Sie mir sagen, dass das nicht zu einer Stagflation führen wird?» meinte Dimon.
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