Was bedeutet Neutralität in einer Welt voller Konflikte und geopolitischer Spannungen? Diese Frage stand am Donnerstag im Zentrum der Ständeratsdebatte (Schweizer Kantonskammer) zur Neutralitätsinitiative. Eingereicht wurde sie von einem breiten Initiativkomitee, das von der nationalkonservativen SVP, der größten Partei der Schweiz, und der Bürgerbewegung Pro Schweiz bis zu linken und friedenspolitischen Gruppen reicht. Ihr Anliegen ist einfach – und zugleich grundlegend: Die Schweiz soll ihre immerwährende, bewaffnete Neutralität nicht mehr nur politisch, sondern verfassungsrechtlich absichern.
Die Initiantinnen und Initianten fordern, dass die Neutralität konkret und verbindlich im Grundgesetz verankert wird – nicht als vage Leitlinie, sondern als klarer Auftrag. Damit solle sichergestellt werden, dass sich die Schweiz in internationalen Konflikten nicht einseitig positioniert oder gar Teil von militärischen Bündnissen wird. Die Schweiz solle helfen, Frieden zu bewahren – nicht Partei ergreifen.
Die Idee dahinter ist keine Neuerfindung, sondern eine Rückbesinnung: Seit 500 Jahren gepflegt, ist die Neutralität seit mindestens 1815, wo sie durch den Wiener Kongress vertraglich abgesichert wurde, ein Markenzeichen der Schweiz, bestätigt und über Generationen hinweg aufrechterhalten – bis zur Rolle als humanitäre Vermittlerin während der Weltkriege und im Kalten Krieg – fest im westlichen Lager verankert, aber doch neutral.
Doch in den letzten Jahren ist Bewegung in dieses Prinzip gekommen. Mit der Übernahme von Sanktionen – etwa gegen Russland – und mit vielen anderen Maßnahmen, näherte sich die Schweiz zunehmend der NATO an. Für die Befürworter der Initiative ist das eine gefährliche Entwicklung. Sie fürchten um die Glaubwürdigkeit der Schweiz als neutrales Land, das für alle Gesprächspartner offenbleibt.
«Wenn wir neutral sind, dann müssen wir es auch sein», brachte es SP-Ständerat Daniel Jositsch (ZH) – ein Befürworter der Initiative aus dem linken Lager auf – den Punkt.
Er stellte sich – ungewöhnlich für einen Sozialdemokraten – auf die Seite der Initianten. Für ihn ist klar: Die Bevölkerung verdient Klarheit darüber, was Neutralität heute bedeutet. Die Verfassung sei dafür der richtige Ort.
Was die Initiative will
Konkret fordert die Initiative vier Punkte:
- Immerwährende Neutralität: Die Schweiz soll sich grundsätzlich nicht an militärischen Auseinandersetzungen beteiligen.
- Bewaffnete Neutralität: Die Armee bleibt zur Verteidigung des Landes bestehen – neutral, aber bereit.
- Gute Dienste: Die Schweiz setzt sich für die Verhinderung und Lösung von Konflikten ein und steht als Vermittlerin zur Verfügung.
- Keine einseitigen Sanktionen: Die Schweiz soll wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen nur noch übernehmen, wenn sie vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen werden.
Der letzte Punkt ist besonders umstritten. Kritiker bezeichnen ihn als «Sanktionsverbot» – doch aus Sicht der Befürworter geht es um Konsequenz. Sanktionen ohne UNO-Mandat seien eine Form von Parteinahme. Ein solches Land würde nicht mehr als neutral wahrgenommen.
Bislang liegt die Handhabung der Neutralität im politischen Ermessen von Bundesrat und Parlament. Doch was sie konkret bedeutet, war oft unklar und je nach Zeitgeist verschieden. Gerade in Zeiten internationaler Konflikte sorgt dieser Spielraum für Unsicherheit.
Die Initiative will genau das verhindern. Für ihre Unterstützer schafft sie eine klare, rechtlich verbindliche Grundlage, die das bewährte Modell der schweizerischen Neutralität schützt – unabhängig von parteipolitischen Mehrheiten oder äusserem Druck.
Der Ständerat hat die Initiative mit deutlicher Mehrheit (35 zu 8 Stimmen) abgelehnt – gleichzeitig aber einem Gegenvorschlag zugestimmt. Dieser schlägt ebenfalls einen Neutralitätsartikel in der Verfassung vor, verzichtet jedoch auf den Abschnitt zu den Sanktionen.
Damit folgt die kleine Kammer einer Strategie der Mitte-Partei: Man will der Bevölkerung eine Alternative zur Initiative bieten. Für viele Unterstützer der Initiative ist der Gegenvorschlag zu wenig verbindlich – und zu interpretationsoffen. Allerdings zwingt er die Initiativgegner zur Parteinahme: Sind sie nur gegen die Initiative, oder generell gegen die Neutralität? Falls tatsächlich ein Gegenvorschlag vorgelegt wird, ist klar: Wer Initiative und Gegenvorschlag ablehnt, ist ganz grundsätzlich gegen die Neutralität. Wer sagt, er oder sie sei zwar für die Neutralität aber gegen die Initiative, muss mindestens den Gegenvorschlag unterstützen. Matthias Michel (FDP/ZG):
«Man muss sich entscheiden. Sonst viel Vergnügen im Abstimmungskampf.»
Die Ständeratsdebatte war geprägt durch Nervosität und den kommenden Abstimmungskampf, der emotional werden dürfte – und wohl auch durch eine gewisse Angst vor der Initiative. Denn: Die aktuelle Sicherheitsstudie des Verteidigungsdepartements (VBS) spricht eine klare Sprache: 87 Prozent der Schweizer Bevölkerung stehen zur Neutralität – auch wenn das in der behördlichen Kommunikation verwedelt wird. Die Initiative hat deshalb intakte bis gute Chancen. Eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer steht hinter dem Prinzip der Neutralität, viele wünschen sich, dass es nicht länger ausgehöhlt wird.
Nun liegt es am Nationalrat, über Initiative und Gegenvorschlag zu befinden. Danach wird es zur Volksabstimmung kommen – falls der Gegenvorschlag auch im Nationalrat eine Mehrheit findet – mit zwei Optionen: Einem konsequenten Bekenntnis zur bewährten Neutralität oder einem weicheren Gegenvorschlag.
Falls die Initiative und/oder der Gegenvorschlag von einer Mehrheit der Stimmberechtigten (Volksmehr) und der Kantone (Ständemehr) angenommen wird, dann erlangt der jeweilige Text Verfassungsrang – auch gegen den Willen von Parlament und Regierung. Falls beide Vorlagen angenommen werden, entscheidet eine Stichfrage, welche von beiden in Kraft tritt.
Die Initianten sind überzeugt: Die Schweiz braucht in unruhigen Zeiten eine verlässliche, glaubwürdige Außenpolitik. Und das heißt für sie: Neutralität, die diesen Namen verdient – klar, verteidigbar und verfassungsmäßig verankert.
Die Gegner der Initiative sind entweder komplett gegen die Neutralität, mit dem Argument, dass diese spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine obsolet sei, oder sie bekennen sich zwar zur Neutralität und sprechen sich gegen die Initiative aus, entweder weil sie die Neutralität im Völkerrecht und in der aktuellen Bundesverfassung für genügend verankert halten oder weil sie die Initiative als zu einschränkend empfinden – vor allem in Bezug auf den Abschnitt über die Sanktionen.
Falls sich auch der Nationalrat für einen Gegenvorschlag ausspricht, dürfte die zweite Gruppe nur dann glaubwürdig sein, wenn sie sich für den Gegenvorschlag ausspricht.
«Fake News» in der Presse
Die Presse (z.B. hier und hier) hat am Donnerstag breit über die Ständeratsdebatte berichtet – nicht ohne die üblichen «Fake News» zu verbreiten, wonach es sich um ein Volksbegehren handelt, das ausschließlich von der SVP und Pro Schweiz lanciert wurde. In Tat und Wahrheit handelt es sich um eine breite Bewegung von Neutralitätsbefürwortern. Der nationalkonservative Flügel ist zwar prominent vertreten und hat sich bei der Unterschriftensammlung sehr ins Zeug gelegt, aber die Initiative wird auch durch Persönlichkeiten und Komitees aus dem linken Lager getragen.
«Fake News» ist auch, dass die Initiative das Ergreifen von Sanktionen im Falle eines internationalen Konflikts fast vollständig verbieten und nur noch die Übernahme von Sanktionen erlaubt, die der UNO-Sicherheitsrat beschließt. Die Schweiz darf zwar Sanktionen außer UNO-Sanktionen nicht mehr unbesehen übernehmen, aber Maßnahmen, um die Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen anderer Staaten zu verhindern, sind ausdrücklich vorgesehen («courant normal») – und da gibt es einen Ermessensspielraum.
Erklärung zur Interessenbindung des Autors: Der Autor dieses Artikels ist Vorstandsmitglied der Bewegung für Neutralität (bene.swiss), die die Initiative befürwortet.
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