Vor der Cancel Culture scheint heutzutage niemand mehr sicher. Am Donnerstag etwa berichtete Transition News über eine Australierin, die in New York City einen Sushi-Laden eröffnet hatte. Klingt harmlos, doch nicht für alle.
Tatsächlich wurde sie daraufhin via Twitter massiv attackiert und unter anderem als «Kolonisatorin» bezeichnet. Sie sah sich daraufhin dazu gezwungen, alle ihre TikTok-Posts zu löschen, ausserdem erhielt ihr Geschäft bei Google tonnenweise 1-Stern-Bewertungen. Der Gipfel der Absurdität: Derjenige, der den Shitstorm losgetreten hatte, ein Puerto-Ricaner, war selbst kulturübergreifend unterwegs. So wollte er unter anderem ein puerto-ricanisch-japanisches Fusionsrestaurant in North Carolina eröffnen.
Haltlose Diffamierungen im öffentlichen Raum gab es sicher schon immer. Neu scheint hingegen zu sein, dass gerade die gesellschaftlichen Gruppierungen, die für sich zuoberst in Anspruch nehmen, die Moral auf ihrer Seite oder gar gepachtet zu haben, und die zu wissen meinen, was «gut» ist, auf moralisch unanständige Weise nicht davor zurückschrecken, rücksichts- und grundlos menschliche Existenzen zu vernichten.
Das bekommt auch der zweimalige Oscar-Preisträger Kevin Spacey seit einiger Zeit zu spüren. Das Magazin Spiked! nimmt sich seines Schicksals in dem Beitrag «Das nicht enden wollende Ausgrenzen von Kevin Spacey» an. Darin heisst es:
«Als der Schauspieler Kevin Spacey im Juli von allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen der sexuellen Nötigung freigesprochen wurde, war dies ein seltener Moment der Fairness und Rationalität in einer verrückten Post-#MeToo-Welt. Einige von uns hatten gehofft, dass dies das Ende der Hexenjagd bedeuten würde, der er ausgesetzt war. Sein Name war reingewaschen worden, und so würde er sicher zur Schauspielerei zurückkehren dürfen. Vielleicht würden sich sogar diejenigen, die an seiner Unschuld gezweifelt hatten, bei ihm entschuldigen.»
Doch Pustekuchen. So wurde kürzlich die Premiere des ersten Films seit seinem Freispruch abgesagt. Im Prince Charles Cinema im Londoner West End sollte die Erstaufführung von «Control» stattfinden, in dem Spacey die Stimme eines Entführers spricht, der das selbstfahrende Auto eines Innenministers entführt. Doch einen Monat vor der geplanten Uraufführung habe das Kino beschlossen, die Veranstaltung abzusagen, so Spiked!.
Greg Lynn, der Leiter des Kinos, habe in einer E-Mail an die Produktionsfirma des Films mitgeteilt: Den Mitarbeitern des Kinos habe davor gegraut, «dass [sie] in einem Atemzug mit [Spaceys] neuem Film für die Premiere genannt werden». Offenbar habe das Kino erst vor kurzem erfahren, dass Spacey in dem Film mitspiele und auch vorgehabt habe, der Premiere beizuwohnen. Lauren Metcalfe, Spaceys Co-Star und eine der Produzentinnen des Films, habe vorgetragen, dass die Absage «aus heiterem Himmel» gekommen sei. Spiked! meint weiter:
«Diese Behandlung von Spacey ist wirklich erstaunlich. Er wurde jetzt zweimal in zwei verschiedenen Fällen und in zwei verschiedenen Gerichtsbarkeiten freigesprochen. Warum also fordert die #MeToo-Bewegung immer noch seinen Kopf? Im vergangenen Oktober gewann Spacey in New York City einen Zivilprozess gegen Anthony Rapp. Im Jahr 2017 schockierte Rapp die Welt, als er Spacey beschuldigte, ihm 1986 unerwünschte sexuelle Avancen gemacht zu haben, als Spacey 26 und Rapp 14 Jahre alt war. Im Jahr 2022 waren die Geschworenen nach nur 90 Minuten Beratung einstimmig der Meinung, dass der Übergriff nicht stattgefunden habe.»
Diesen Juli sei Spacey dann erneut vor Gericht entlastet worden, und zwar in London. In neun Fällen von sexueller Nötigung habe man ihn für nicht schuldig befunden. Am Ende des Prozesses hätten die Geschworenen Spacey sogar umarmt, um ihm ihre Solidarität und ihr Mitgefühl zu bekunden.
«In einer gerechten Welt wäre das das Ende der Geschichte gewesen (...) Doch die Filmindustrie, die dem #MeToo-Mantra ‹Glaubt allen Opfern› folgte, ging davon aus, dass jede Anschuldigung gegen ihn wahr sei.»
Genau genommen müsste es heissen, dass die Filmindustrie dem #MeToo-Mantra «Glaubt allen Opfern gefolgt sei, auch wenn noch nicht im Entferntesten bewiesen ist, dass es sich tatsächlich um Opfer handelt»,
Ohne Frage, die #MeToo-Bewegung verfolgt ein absolut legitimes und wichtiges Anliegen, indem sie auf das Ausmass und die Grausamkeit sexueller Belästigung und sexueller Übergriffe aufmerksam machen möchte. Doch das Ganze darf nicht in eine moralische Hexenjagd münden.
Natürlich bleiben immer Restzweifel. Kein Gericht ist unfehlbar. Doch auch das kann kein Grund sein, gegen jemanden wie Spacey eine moraline Hexenjagd loszutreten und ihn weiter auszugrenzen, selbst nachdem er von der Gerichtsbarkeit komplett «reingewaschen» wurde. Spaceys Anwalt Chase Scolnick:
«Herr Spacey hat seine Unschuld in jedem Gerichtssaal bewiesen, in dem er erschienen ist. Jeder Geschworene, der die Beweise gegen ihn geprüft hat, hat die falschen Anschuldigungen einstimmig zurückgewiesen. Die Entscheidung des Prince Charles Cinema, Kevins aufregendes neues Projekt zu zensieren, ist mehr als enttäuschend. Es lehnt die juristischen Urteile zweier Länder ab, ignoriert die überwältigenden Beweise für Kevins Unschuld und missachtet die Hingabe von Dutzenden unparteiischen Geschworenen, die Kevin zu 100 Prozent für unschuldig befunden haben.»
Spacey selbst ist im Übrigen nicht in dem Film zu sehen. Lediglich ist seine Stimme in Telefonaten mit der Innenministerin Stella Simmons zu hören, die von der walisischen Schauspielerin Lauren Metcalfe gespielt wird.
Wie das Magazin Variety erfuhr, habe man für die Weltpremiere dann relativ zügig mit dem Genesis-Kino nicht nur einen Ersatz gefunden, sondern «einen viel besseren und geeigneteren Veranstaltungsort».
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