Es klang wie eine Lektion für ein juristisches Lehrbuch. Mit dem Urteil 1C_506/2023 vom 23. April 2024 hatte das Schweizer Bundesgericht die weit verbreitete Praxis, Natel-Sendeantennen auf Basis einer Bagatellbewilligung auf 5G aufzurüsten, richtig gehend zerpflückt (wir berichteten hier).
Bagatellbewilligungen sind «kleine» Baubewilligungen für genehmigungspflichtige Vorhaben, bei denen kaum jemand betroffen ist und es kaum legitime Einsprachegründe gibt – also zum Beispiel das Montieren einiger Solarpanels für ein Schwimmbad direkt auf einem Dach.
Mit einer E-Mail vom 28. Juni 2024 forderte nun Jörg Wichtermann, Geschäftsführer des Verbandes Bernischer Gemeinden, alle Berner Gemeinden auf, das oben genannte Urteil des höchsten Schweizer Gerichtes zu ignorieren, wie der Verein Gigaherz.ch auf seiner Webseite mitteilt.
Wichtermann appellierte an die Bauverwaltungen, den baupolizeilichen Anzeigen von D. Laubschers Plannetzwerk sowie den Vereinen WIR und Gigaherz.ch vom 19. Februar 2024 weiterhin keine Folge zu leisten und die Verfahren zu sistieren. Unterstützung erhält Wichtermann von den vereinigten kantonalen Umweltdirektoren und der Bau- und Planungsdirektorenkonferenz (BPUK).
Der Konflikt dreht sich um 380 5G-Sendeanlagen im Kanton Bern, die mittels Bagatellbewilligung mit einem sogenannten Korrekturfaktor betrieben werden. Dieser Korrekturfaktor erlaubt es Mobilfunkbetreibern, ihre adaptiven 5G-Sendeanlagen mit 2,5 bis 10-mal höherer Sendeleistung zu betreiben als ursprünglich für Strahlenschutz-Berechnungen angenommen. Dies führt innerhalb eines 6-Minuten-Zyklus zu mehreren Grenzwertüberschreitungen.
Das Bundesgerichtsurteil 1C_506/2023 forderte nun die sofortige Aufhebung dieses Korrekturfaktors bei allen betroffenen Sendeanlagen. Laut Wichtermann handelt es sich bei diesem Urteil lediglich um ein formelles Defizit. Er argumentiert, dass die Grenzwerte trotz des Urteils eingehalten würden, und hält es für vertretbar, die Baupolizeiverfahren bis zum 31. Dezember 2024 weiterhin zu sistieren. Die Mobilfunkbetreiber müssten bis dahin lediglich ein nachträgliches, öffentliches Baugesuch einreichen.
Sollten die Baugesuche nachträglich eingereicht werden, könnten sie von den Anwohnern mit Einsprachen und Beschwerden konfrontiert werden. Dies könnte zu hohen Gerichtskosten führen und die Verfahren erheblich verzögern. Falls die Gemeinde Wichtermann folgen, würden in dieser Zeit die 5G-Sendeanlagen weiterhin in Betrieb bleiben, was zu einer weiteren Belastung durch Grenzwertüberschreitungen führen könnte.
Die Forderung von Wichtermann stößt auf erhebliche Kritik, insbesondere von den Vereinen WIR und Gigaherz.ch, die sich vehement gegen den Betrieb der 5G-Sendeanlagen ohne adäquate Baubewilligung einsetzen. Sie argumentieren, dass die Einführung des Korrekturfaktors durch die Landesregierung, also den Bundesrat, ein Eingeständnis sei, dass die ursprünglichen Strahlenschutz-Berechnungen nicht ausreichend waren und dass die Erhöhung der Sendeleistung gesundheitliche Risiken für die Bevölkerung birgt.
Es ist unklar, wie die Berner Gemeinden auf die Aufforderung von Wichtermann reagieren werden. Absehbar ist jedoch, dass die Diskussion um den Betrieb der 5G-Sendeanlagen und die Einhaltung von Strahlenschutz-Grenzwerten weiter an Intensität gewinnen wird.
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