Wir erleben gerade bedeutende geopolitische Umwälzungen. Verbunden damit ist ein Wirtschaftskrieg. Ein wichtiger Faktor dessen sind wiederum die Wirtschaftskorridore. Darauf geht der brasilianische Journalist und geopolitische Analyst Pepe Escobar in The Cradle ein.
Der India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC) ist eine neue Initiative, an der die USA, Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und die EU, insbesondere Deutschland, Frankreich und Italien beteiligt sind. Dieses multimodale Eisenbahnprojekt zielt darauf ab, Indien über den Nahen Osten mit Europa zu verbinden. Escobar sieht in diesem Korridor eine westliche Antwort auf Chinas Belt and Road Initiative (BRI). Er wertet ihn als Versuch, China aus geopolitischen Gründen zu umgehen.
Der Journalist erinnert zuerst an andere gescheiterte internationale Initiativen, beginnend mit der American Silk Road der USA aus dem Jahr 2010, die von Hillary Clinton unterstützt wurde. Weiter erwähnt er die New Silk Road, an der Polen, die Ukraine, Aserbaidschan und Georgien Anfang der 2010er-Jahre beteiligt waren und die den Transport von Waren über das Schwarze Meer und das Kaspische Meer vorsah.
Schliesslich spricht Escobar den von den USA gesponserten 40-Billionen-Dollar-Plan Build Back Better World (BBBW) an, der sich mit Klima, Gesundheit, digitaler Technologie und Geschlechtergerechtigkeit befassen sollte. Innerhalb eines Jahres sei er auf ein 600-Milliarden-Dollar-Infrastruktur- und Investitionsprojekt reduziert worden, ohne greifbare Ergebnisse.
Korridor ins Leere?
Escobar zweifelt an der Durchführbarkeit des IMEC-Projekts. Erstens hätten Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate bedeutende Handels- und Energiebeziehungen zu China, so dass sie ihre Beziehungen zu Peking kaum gefährden würden. Zweitens ziele IMEC darauf ab, nicht nur die BRI, sondern auch den Internationalen Nord-Süd-Verkehrskorridor (INTSC) zu untergraben, bei dem Indien mit Russland und dem Iran zusammenarbeite.
Die «neoliberale Obsession» hinter dem IMEC scheint Escobar zufolge die Förderung US-amerikanischer Interessen in Israel zu sein, insbesondere indem der Hafen von Haifa zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt zwischen Westasien und Europa werde. Dies widerspreche jedoch vermutlich den Interessen Indiens, da das Land bereits über einen funktionierenden INTSC verfügt, der Zugang zu den Märkten in Zentralasien und dem Kaukasus bietet.
Gemäss Escobar zeigen Vergleiche zwischen dem IMEC und dem zum BRI gehörenden Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC), dass der IMEC die schwächere Alternative ist, und dass es schwierig ist, fehlende Eisenbahnverbindungen zu vervollständigen.
Südarmenische Provinz Sjunik im Fokus
Der geopolitische Analyst weist auf einen weiteren Beitrag von ihm in The Cradle aus dem Jahre 2022 hin. Darin wird deutlich, dass die Absichten für solche Korridore nur selten der Realität entsprechen. Escobar bringt nun drei Beispiele.
In Zentralasien entwickeln Russland und mehrere zentralasiatische Länder einen südlichen Transportkorridor (Southern Transportation Corridor), der Kasachstan umgeht. Der Grund für diesen Schritt ist laut Escobar der Wunsch Russlands, die strenge Kontrolle der Fracht an der kasachischen Grenze aufgrund der Sanktionen zu vermeiden. Ausserdem könnten die Güter somit in den russischen Hafen Astrachan gebracht werden. Kasachstans Status als Verkehrsknotenpunkt könnte dadurch in Gefahr sein. Escobar stellt zudem fest, dass China Interesse an diesem neuen Korridor zeige.
Im Kaukasus planen Russland, der Iran und Aserbaidschan den Bau einer bedeutenden Eisenbahnlinie, welche die iranischen Häfen am Persischen Golf über Aserbaidschan mit dem russischen Eisenbahnsystem in Osteuropa verbinden soll. Dieses Projekt soll unter Umgehung des Suezkanals Osteuropa mit Ostafrika und Südasien verbinden. Die Spannungen in Bergkarabach haben jedoch gemäss Escobar das Potenzial, Armenien, Aserbaidschan, Iran und die Türkei in einen Konflikt zu verwickeln. Teheran habe seine Unterstützung für Armenien deutlich gemacht.
Zu diesem «brandgefährlichen Mix» kommen laut dem Journalisten noch die gemeinsamen Militärübungen zwischen den USA und Armenien hinzu. Denn Armenien gehört der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) an.
Dann sei da noch die ungelöste Frage des Sangesur-Korridors und seine Bedeutung für die Verbindung der Türkei mit China über Aserbaidschan und das Kaspische Meer. Der «türkische Sultan Recep Tayyip Erdoğan» werde diesen Korridor niemals aufgeben, so Escobar.
Er verläuft auch über die südarmenische Provinz Sjunik. Der Autor geht davon aus, dass dieser es dem «kollektiven Westen» ermöglichen würde, das Teile-und-herrsche-Prinzip noch kühner gegen Russland und den Iran anzuwenden. Es sei wichtig, die Entwicklungen in Sjunik zu beobachten.