Wahlen finden in Großbritannien traditionell am Donnerstag statt. Am 1. Mai standen in England Lokalwahlen auf dem Programm. Die Wahlen fanden nicht im ganzen Land statt. Aufgrund einer Gemeindereform, die die regierende Labour Partei plant, wurden sie in sieben von 21 Grafschaften um maximal ein Jahr hinausgeschoben. In Schottland und Wales waren keine Lokalwahlen fällig.
Die deutschen Medien meldeten in recht kurzen Meldungen den Kantersieg von Nigel Farages Partei Reform UK. Dem Londoner Korrespondenten der Schweizer Tamedia-Zeitungen verschlug es zunächst die Sprache. Erst am Sonntag schrieb er einen entsprechenden Kommentar.
In allen Meldungen war vom Kantersieg von Reform UK die Rede, von Nigel Farage, der immer frei und ohne Teleprompter spricht, der betont, dass seine Mitbürger immer ärmer würden, dass es an Recht und Ordnung fehle, dass massenhaft Migranten über den Kanal kämen und dass die Regierung den Briten mit einer verrückten Politik zur Bekämpfung des Klimawandels enorme finanzielle Lasten aufbürde. Der in den Wirren um den Brexit mit einer Vorgängerpartei von Reform UK groß gewordene Farage würde mit diesen Aussagen allgemeinen Applaus ernten.
Farage ist immer noch der Meinung, dass der Brexit richtig war, dass aber die Chance, die der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union bietet, nicht adäquat genutzt wurde.
Die Wahlen wurden als überwältigender Sieg für Reform UK beschrieben. Die Partei belegte mit 30% Wähleranteil praktisch aus dem Stand den ersten Platz, gewann die meisten Sitze und übernahm die Kontrolle über mehrere lokale Verwaltungen. Die regierende Labour-Partei (20%) sowie die Konservativen (15%) – sie ist die offizielle Opposition – erlitten historische Verluste. Es waren die ersten Wahlen unter der Führung von Labour-Premierminister Keir Starmer.
Was nicht gesagt wurde: In den letzten Jahren kämpft sich eine andere Partei systematisch nach vorn: Die Liberaldemokraten. Sie erreichten am 1. Mai 17%, übernahmen in mehreren lokalen Verwaltungen die Kontrolle und überholten die Konservativen.
Im 18. und 19. Jahrhundert gab es in Großbritannien zwei Parteien. Die Tories und die Whigs. Die Tories sind die heute von Kemi Badenoch geführten Konservativen. Aus den Whigs (oder: Liberalen) entwickelten sich nach vielen Häutungen und Fusionen die heutigen Liberaldemokraten. Nach einer langen Regierungszeit wurden die Liberalen unter H. H. Asquith 1916 von den Konservativen gestürzt und verschwanden für Jahrzehnte in der politischen Bedeutungslosigkeit. Der Grund: Der Aufstieg der Arbeiterpartei. Labour beanspruchte den Platz der Liberalen im politischen System Großbritanniens, das aufgrund des Majorzwahlrechts kaum Platz für mehr als zwei große Parteien lässt.
Die Liberaldemokraten (LibDems) unternahmen in den letzten 30 Jahren mehrere Versuche, ihr Profil zu schärfen und wieder Fuß zu fassen. Sie profilierten sich als vernünftige, soziale Alternative zu den Konservativen und als bürgerlicher als Labour. Die Partei ist dezidiert EU-freundlich und hat sich während verschiedener NATO-Kriege äußerst mutig gegen das Mitmachen Großbritanniens gestellt. Im Ukrainekrieg unterscheidet sich die Position der Liberaldemokraten allerdings nur in Nuancen von derjenigen der bisherigen Großparteien.
Schon 2010 gewann die Partei 57 Sitze im Unterhaus und bildete – untypisch für Großbritannien – eine Koalitionsregierung mit den Konservativen. Fünf Jahre später gewannen die Tories dann die absolute Mehrheit und konnten allein regieren. Viel von dem, was schiefgegangen war, wurde den Liberaldemokraten angekreidet, die wiederum die meisten ihrer Sitze verloren. Premierminister David Cameron führte dann mit dem bekannten Resultat das Brexit-Referendum durch, etwas, was mit den Liberaldemokraten nicht zu machen war.
Dann kam die Ernüchterung nach dem Brexit und die turbulente Zeit mit verschiedenen konservativen Premierministern. Bei den Unterhauswahlen von 2024 räumten die Liberaldemokraten dann unter der dynamischen Führung von Ed Davey nicht weniger als 72 Sitze ab – das beste Resultat seit den Zeiten von Asquith. Die Konservativen waren auf 121 Sitze abgestürzt. In den Medien war vom Sieg von Labour die Rede und vom Absturz der Konservativen – aber kaum davon, dass die Liberaldemokraten sich an die Fersen der Konservativen geheftet hatten. Weitgehend unbeachtet gab Davey die Losung aus, bei den nächsten Unterhauswahlen die Konservativen zu überholen und zur offiziellen Opposition zu werden.
Ganz unrealistisch ist das nicht, denn bei den Lokalwahlen – sie lassen nur bedingt Rückschlüsse auf die Unterhauswahlen zu – ist das letzte Woche schon geschehen. Entsprechend unter Druck ist nun Oppositionsführerin Kemi Badenoch. Während Davey den Posten des Oppositionsführers anpeilt, schielt Nigel Farage ganz unbescheiden auf Downing Street 10, den Amtssitz des Premierministers. Früher als Chaostruppe verschrien, hat er seine Partei in den letzten Jahren professionalisiert.
Werden die Ziele wahr, die sich Farage und Davey gesteckt haben, dann sieht das Parteienspektrum in Großbritannien in einigen Jahren anders aus. Reform UK und die LibDems balgen sich mit je sehr scharfen, aber gegensätzlichen Profilen um die ersten Plätze, und die Tories und Labour erleiden das Schicksal der Partei von H. H. Asquith nach dem Ersten Weltkrieg.
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