Die Bildende Kunst war lange nicht sichtbar, als es darum ging, den Zeitgeist gesellschaftspolitisch zu kritisieren. Doch mittlerweile herrscht in diesem Bereich sehr viel Bewegung. Künstler verschiedener Disziplinen treten mit Arbeiten hervor, die sich beispielsweise mit der drakonischen Corona-Politik und ihren Folgen auseinandersetzen, die im Kontext mehrerer Kriegsherde pazifistische Töne anschlagen oder generell den Freiheitsverlust beklagen.
Viele Werke ergreifen Partei, klagen an oder machen in der Bildersprache unmissverständlich, gegen wen sich die Kritik richtet. Es gibt aber auch Künstler, die mit subtilen Mitteln arbeiten. Und oftmals entfalten solche Produkte eine größere Kraft. Das lässt sich an dem Oeuvre des Franzosen und Wahlberliners Clément Loisel veranschaulichen.
Kunst muss für ihn sozialkritisch sein, sie muss sich einmischen und die gesellschaftspolitischen Verhältnisse reflektieren – allerdings nicht mit dem Vorschlaghammer. Seine Aufgabe sei es, «den Staub unter dem Teppich offenzulegen», sagt er. Loisel macht das mithilfe von Allegorien und Andeutungen.
Alltagsszenen mit einer tieferen Bedeutung
Eines seiner jüngsten Werke zeigt eine Situation, in der sich mehrere Jugendliche im Museum befinden und vor Goyas bekanntem Gemälde «Tres de Maio de 1808 em Madrid» für ein Selfie posieren. Es handelt sich dabei um eine auf den ersten Blick banale Alltagsszene. Allerdings sagt sie mehr über den Zeitgeist aus als so manch plakatives Werk, das die Missstände direkt anprangert.
Kunst und Kultur, so die Deutung, haben an gesellschaftlicher Bedeutung verloren. Sie dient nur noch als Accessoire für die mediale Selbstinszenierung, als bloßes Requisit für die Aufpolierung des Ichs, das es in der gesteigerten Aufmerksamkeitsökonomie zu vermarkten gilt. Die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur ist nur noch eine oberflächliche, weshalb gerade die nachwachsende Generation die darin tradierten Ideen, Gedanken und Konzepte nicht versteht.
Gleiches gilt für die anderen sozialen Bereiche. Die dargestellte Szene könnte sich genauso gut im Parlament abspielen oder auf der Zuschauerbank eines Gerichts. Der Inhalt ist nichts, die Umgebung alles.
In dieser Mentalität liegt die Antwort darauf, warum große Teile der Gesellschaft heute so angepasst sind, warum sie den Leitmedien trotz eklatanter Widersprüche glauben und warum sie weiterhin den Regierungen vertrauen, obwohl diese regelmäßig gegen demokratische Grundprinzipien verstoßen.
Orientierung an Alten Meistern
Loisels Werk hebt diesen Aspekt hervor und gibt zugleich zu verstehen, wo die wahren Quellen intellektueller Erkenntnis sind. Allein der Titel «Cher Francisco» deutet an, dass der Künstler sich an den Alten Meistern orientiert. Goya hatte damals in der Auseinandersetzung mit revolutionären Bestrebungen auch die Schattenseiten dargestellt.
Clément Loisel, «Cher Francisco»
Der Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung war mit vielen Opfern verbunden. Davon wissen die selbstverliebten Jugendlichen von heute freilich nichts, auch nichts von den eigenen Privilegien, die sie den früheren Generationen verdanken – eben weil sie sich nicht damit beschäftigen, sondern lieber Selfies schießen oder in die Smartphones starren.
Das tun sie in einem anderen Bild Loisels, in dem der Künstler das Thema ein wenig variiert. In «Cher Eugène» sitzen sie im Louvre vor Delacroix’ «Die Freiheit führt das Volk», sind aber an dem geschichtsträchtigen Werk weniger interessiert als an der digitalen Berieselung.
Clément Loisel, «Cher Eugène»
Der Franzose produziert generell ganze Bilderserien, in denen sich bestimmte Motive wiederholen, das Grundkonzept aber auf unterschiedliche Weise realisiert wird. Dadurch bekomme die Aussage mehr Tiefe und präge sich besser ein, erklärt Loisel.
Selbstverständnis als Künstler
Eines der immer wiederkehrenden Elemente ist der Künstler selbst, der auf den Bildern mit Wollmütze und Rollkoffer als Reisender auftritt. Darin drückt sich sein Selbstverständnis aus. Loisel versteht sich als Wanderer, als Beobachter und Chronist, der den Zustand der Welt so dokumentiert, dass die Betrachter seiner Gemälde zum Nachdenken angeregt werden.
Während auf den Bildern seine Kleidung gleich bleibt, ändert sich die Umgebung. Mal ist es eine zerbombte Straße in Gaza, mal das Louvre und mal ein Laden in Florida, den mehrere Amerikaner plündern. «Broken Dreams» heißt das Bild (siehe Titelbild). Loisel entlarvt darin das gängige Narrativ vom American Dream, der für nicht wenige nur ein Traum bleibt – jenseits der eigenen Möglichkeiten und in der Realität nicht erreichbar.
Formal zeichnen sich seine Bilder durch kräftige Ölfarben und handwerkliche Präzision aus. Sie sind figurativ-realistisch, lehnen sich an die Darstellungsweise Alter Meister an, lockern sie jedoch mit modernen Elementen auf. Diese zeigen sich unter anderem in einem expressionistischen Farbenspiel. Für seine Motive lässt er sich von Fotos aus Magazinen, Alltagsszenen oder Bildern im Internet inspirieren.
Allegorische Darstellung des Verhältnisses zwischen Volk und System
Allerdings kann es auch vorkommen, dass Loisel auf Farbe verzichtet und sie in Schwarz-Weiß malt. Davon zeugt eine Bilderreihe, in der er das Motiv eines Kampfes zwischen Jokey und Pferd variiert hat. Beide werden als Antipoden erkennbar: Das Tier bringt den Reiter immer zu Fall, sodass er auf den jeweiligen Bildern entweder in der Luft hängt oder hart auf dem Boden landet.
Wer diesen Konflikt verstehen will, muss wissen, dass Loisel das Motiv symbolisch aufgeladen hat. Das Pferd repräsentiert das Volk, während der Jockey für das System oder die Machthaber steht. «Es handelt sich um eines der wenigen Tiere, die man reiten und somit ganz direkt lenken und steuern kann», erklärt Loisel. «Gleichzeitig steckt in Pferden sehr viel Menschlichkeit.» Das Tier verkörpere für ihn Freiheit. Der Jockey hingegen will sie minimieren, indem er das Volk im Namen der «Solidarität» dressiert.
Obwohl Loisel einige dieser Bilder bereits lange vor der Corona-Krise gemalt hat, wirken sie gerade in der heutigen Zeit aktueller denn je. Eines ist jedoch während der Zeit der drakonischen Freiheitseinschränkungen entstanden. «Die rote Linie» heißt es und gibt zu verstehen, was der Künstler sagen möchte.
Auf dem mit Kohle gemalten Gemälde bleibt das Pferd an der titelgebenden Markierung stehen und wirft den Jockey über sich. Bis hierher und nicht weiter, lautet die Aussage. Das Volk lässt es nicht zu, dass die Politik weitere Grenzen überschreitet.
Kritik an wachsender Staatsüberwachung
Kritisiert Loisel in dieser Serie den Machtmissbrauch, setzt er sich in einer anderen mit der wachsenden Staatsüberwachung auseinander. Die Bilder tragen den übergeordneten Titel «Frühling-Sommer-Kollektion». Zu sehen sind Kameras mit jeweils unterschiedlichen Blümchenmustern, die zu verstehen geben, worauf der Künstler anspielt: «Um die wachsende Überwachung und Kontrolle dem Volk schmackhaft zu machen, greift der Staat zu den Mitteln der Modebranche», sagt Loisel. «Er präsentiert die Maßnahmen in einem schönen Kleid, damit sie akzeptiert werden.»
Um die Aussagen dieser Bilder zu verstehen, ist eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Kunst, Kunstgeschichte und den gesellschaftspolitischen Verhältnissen nötig. Doch das scheint für die jungen Generationen immer weniger von Interesse zu sein, wie Loisel kritisch anmerkt. Seine Bilder halten ihr den Spiegel vor, in der Hoffnung, dass sie darin erkennt, auf welchem Irrweg sie ist und dass unter der glitzernden Oberfläche des Social-Media-Thrills existenzielle Konflikte brodeln.