Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung von Al Mayadeen English übernommen.
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Die Tatsache, dass auf unserem Planeten in der heutigen Zeit ein Völkermord stattfindet – sichtbar für alle Menschen auf persönlichen Geräten in der ganzen Welt –, eine fortlaufende Abscheulichkeit, die von keinem internationalen Gremium, keiner zwischenstaatlichen Organisation und nicht einmal von jenen edlen Staaten aufgehalten wird, die verkünden, eine neue und gerechtere Welt aufzubauen, sagt viel über unsere Entwicklung als Spezies und möglicherweise über die Zukunft unserer Zivilisation aus.
Wir stehen jetzt vor einer Gabelung: Ein klarer und breiter Weg führt in die Zerstörung und den Ruin; der andere soll zu einer neuen und harmonischen Welt führen ... aber er ist gewunden, steinig, vage und von Nebel umhüllt.
Wie ein verzweifeltes Opfer im Treibsand, das vergeblich mit den Armen herumfuchtelt, beschleunigt die Raserei eines untergehenden Imperiums nur seinen eigenen Untergang. Es hat den Weg gewählt, der in den Ruin und seinen eigenen Selbstmord führt ... und es hat viele Anhänger, besonders in seinem kranken Anhang – dem zionistischen Gebilde – und dem Rest der westlichen Welt.
Die Symptome dieses nekrotischen Triebes zeigen sich in den ewigen Kriegen, in einem sich selbst verschlingenden Wirtschaftssystem, das auf unersättlicher Gier und vorsätzlicher Ignoranz beruht, in der Zerstörung der Gesellschaft, der Familie, der Rituale und Traditionen und im Grunde in einer totalen Verachtung für alles Natürliche und Lebendige. Diese Anzeichen entspringen einem Zustand permanenter Unzufriedenheit und Angst, der letztlich zur Selbstzerstörung führt.
Und nun, obwohl der heutige Hegemon, die Vereinigten Staaten – aufgebaut auf Völkermord und Sklaverei – seit ihrer Gründung zahllose Kriege geführt haben und Europa aufgrund seiner endlosen Raffgier den Planeten über 500 Jahre lang massakriert und ausgeplündert hat, ist es nicht mehr nur eine Frage der Geographie. Der Kern des Problems unserer heutigen menschlichen Zivilisation ist die westliche Mentalität und das System des finanzialisierten Kapitalismus, die beide die ganze Welt in unterschiedlichem Maße infiziert haben, mit nur wenigen Ausnahmen.
Der größte Teil der Weltmehrheit ist nach wie vor nicht in der Lage, das Joch des kolonialistischen Westens abzuschütteln, aufgrund von Korruption, Abhängigkeit, gesellschaftlichem Druck und fehlender Unterstützung durch die Staaten, die Bürger nicht über ihre eigene Vergangenheit und Geschichte aufklären.
Die Mythifizierung und Nachahmung der westlichen Welt haben sich über so viele Jahrhunderte hinweg so tief in das Mark vieler Menschen eingegraben, dass ein Entkolonialisierungsprozess Zeit braucht. Und offiziell wurde nur wenig zu diesem Zweck unternommen. Die vielversprechenden BRICS+-Staaten konzentrieren sich hauptsächlich auf Handel, Wirtschaftswachstum und Hightech-Innovationen.
Um den westlichen Weg in die gesellschaftliche Verwüstung und den Ruin zu vermeiden und den anderen Weg aus dem Nebel zu lichten, müssen wir von der globalen Mehrheit in vielen Bereichen nach Klarheit suchen. Vielleicht müssen wir unsere Denkweise grundlegend ändern. Wir können damit beginnen, unsere Definitionen sehr grundlegender Begriffe zu hinterfragen. Zum Beispiel: Was ist «Entwicklung», was ist «Wachstum», was ist «Wohlstand» und was ist «Fortschritt»?
Nicht jedes Wachstum ist vorteilhaft – wie bei bösartigen Metastasen. «Positives Wachstum» bezieht sich heute vor allem auf monetäre Aspekte: BIP, Bruttonationaleinkommen (BNE), Kaufkraftparität (KKP). Was ist «Fortschritt»? Fortschritt bezieht sich heute vor allem auf technologische Innovationen. Und sicherlich ist es unerlässlich, dass die Menschen aus der Armut befreit werden, wie es China gelungen ist. Aber was ist die Art von «Wohlstand», die die Menschheit erreichen möchte?
Heute, in dieser postmodernen Welt, ist von Entwicklung, Wachstum, Wohlstand und Fortschritt in Bezug auf immaterielle Dinge kaum noch die Rede. Nicht nur die Bildung, die Künste und die Kulturen der Welt sind in Stagnation geraten, sondern offensichtlich auch die Ethik und die Wertesysteme ganzer Staaten und Gesellschaften. Ganz zu schweigen vom Gewissen des größten Teils der Menschheit.
Wie sonst könnte ein Völkermord alltäglich werden? Wie sonst könnten Gräueltaten zu einem täglich tolerierbaren Spektakel in der Welt werden? Wie sonst könnten sich zwei völkermordende Führer treffen und so eifrig über ihre «Immobilienpläne» für ihr Konzentrationslager sprechen, als ob sie ein normales Gespräch führen würden? Wie sonst könnten wir alle zu einem globalen Publikum für eine inszenierte Hungersnot geworden sein?
Wie sonst ist es möglich, dass so viele europäische Staaten und die EU-Grenzkontrollbehörde Frontex zu Kunden von «kampferprobten» Waffen (in Gaza «getestet») von Elbit Systems («Israels» größtem Rüstungsunternehmen) werden, die Überwachungsdrohnen und ferngesteuerte Geschütztürme für gepanzerte Fahrzeuge herstellen, damit europäische Soldaten nicht zur Rechenschaft gezogen werden und kein schlechtes Gewissen haben müssen, wenn gezielt Flüchtlinge von anonymen Technikern in abgelegenen Büros ermordet werden?
Wie sonst könnten europäische Länder zulassen, dass ihre historischen Vorfälle des Völkermords an den Juden von der zionistischen Organisation «revidiert» und beschönigt werden, um israelische Geschäftsvorteile zu erzielen? Wie sonst könnte internationales Recht ohne Widerstand mit Füßen getreten werden? Wie sonst könnten serienmäßige Verlogenheit und der ständige Bruch von Verfassungen und Abkommen akzeptabel werden? Wie sonst könnten die Bürger dieser Staaten, die sich ihrer «Meinungsfreiheit» und ihrer «westlichen Werte» rühmen, zulassen, dass ihre Staaten einen Punkt erreichen, an dem sie nun Demonstranten kriminalisieren, weil sie für die Menschenrechte eintreten?
Abgesehen von den Menschen, die direkt in Kämpfe um ihr Überleben verwickelt sind (im Gazastreifen, in Syrien, im Libanon und anderswo), den mutigen Soldaten, die gegen den Nazismus kämpfen, den engagierten Journalisten, die an den Fronten ihr Leben riskieren, und den Aktivisten, die ihren Beruf riskieren, weil sie gegen den Völkermord protestieren. Wo ist der Rest der Welt? Einige Staaten verurteilen den anhaltenden Völkermord, ergreifen aber keine Maßnahmen, weil es ... kompliziert ist.
Und doch haben wir eine Ausnahme: die Ansar Allah im Jemen. An ihrem entschlossenen Handeln ist nichts kompliziert: Es ist einfach eine Frage der Priorität.
Warum sollte die Mehrheit eines Volkes in einem der ärmsten Länder (vielleicht dem ärmsten) der Erde den größten Teil ihrer Energie, ihrer knappen Ressourcen und ihrer festen Überzeugungen darauf verwenden, ihr Leben für die Verteidigung eines anderen Volkes zu riskieren, das nicht direkt mit ihnen verwandt ist und sich in einem weit entfernten Land befindet (schätzungsweise 2270 Kilometer entfernt)? Was eint diese Menschen in diesem Ziel? Und was könnten IHRE Definitionen von «Entwicklung», «Wachstum», «Wohlstand» und «Fortschritt» sein?
Der Jemen, der seit mindestens 7000 Jahren ein Knotenpunkt verschiedener Zivilisationen ist, hat im Laufe der Jahrhunderte unzählige Invasionen, erbitterte Kämpfe, usurpierende Dynastien und koloniale Besetzungen durch diejenigen erlebt, die ständig versuchten, dieses wertvolle, hoch entwickelte, ressourcenreiche und «geografisch optimale» Gebiet zu plündern, zu erobern und zu kontrollieren.
In den 1990er Jahren, nach einer langen Zeit wirtschaftlicher Not, die zum Teil auf die anhaltende saudische Unterdrückung und insbesondere auf die Weigerung Jemens zurückzuführen war, sich der amerikanisch-saudischen Militärkoalition gegen den Irak anzuschließen, entstand im Norden Jemens eine zaidische Basisbewegung, die unter dem Namen Muntada al-Shabab al-Mu’min («gläubige Jugend») bekannt wurde und der verarmten Bevölkerung der Region Sozialprogramme anbot. Die erfolgreiche Bewegung wuchs und wandelte sich bald in die Ansar Allah («Unterstützer Gottes») um, die zwischen 2004 und 2010 sechs Kriege gegen das von den Saudis und dem Westen unterstützte Saleh-Regime führten.
Trotz jahrzehntelanger Entbehrungen lassen sich die Ansar Allah in ihrem Streben nach Gerechtigkeit, in ihrem Kampf für die Befreiung Palästinas und für die Verbesserung ihres eigenen Landes nicht beirren. Um diese Ziele zu erreichen, brauchen sie keinen «finanziellen Wohlstand» und keinen finanzialisierten Staat. Bei all ihren Aktionen zeigen sie Solidarität und Einigkeit untereinander. Sie lassen sich nicht einschüchtern. Sie sind bereit, für ihre Überzeugungen und Prinzipien zu sterben.
In ihren gefilmten Reden und Diskussionen ist das Auftreten der Ansar Allah sichtlich von Zuversicht, Gelassenheit, Anmut, Selbstsicherheit und Bescheidenheit geprägt. Während der Dritten Internationalen Konferenz «Palestine: The Central Issue of the Nation» (Palästina, die zentrale Sache der Nation) zeigten sie Freundlichkeit, Großzügigkeit und Gastfreundschaft bei der Aufnahme ausländischer Gäste, selbst gegenüber solchen aus «feindlichen Staaten».
Im Alleingang haben sie die globale Machtdynamik in der Schifffahrt gestört. Sie stützen sich auf das Fachwissen ihrer eigenen Spezialisten und stellen selbst Waffen her. Der oberste Waffenkäufer des US-Pentagons, Bill LaPlante, zeigte sich alarmiert über die Raffinesse dieser Waffen: «Was ich in den letzten sechs Monaten von Ansar Allah gesehen habe, ist schockierend».
In seinem Artikel «Factors behind Yemen’s Valiant Resistance» (Faktoren hinter dem tapferen Widerstand im Jemen) beschreibt der Journalist und politische Analyst Ayman Ahmed, wie es den Ansar Allah gelungen ist, «konventionelle militärische Taktiken auf sehr unkonventionelle Weise zu modifizieren», indem sie einen guerillaorientierten Ansatz gewählt haben: Sie bewegen sich zu Fuß in kleinen mobilen Gruppen über feindliches Terrain, wobei ihre Gruppenführer ihre Taktiken oft an Ort und Stelle improvisieren und wenig bis gar keine elektronischen Geräte verwenden ... «Ihr Einsatz von Drohnen in fast guerillaähnlichen Operationen verdeutlicht, wie es den Jemeniten gelungen ist, die milliardenschwere saudische Luftabwehr zu stören. (…) Das saudische Regime hat keinen größeren militärischen Sieg erringen können, obwohl es über große Waffenbestände verfügt, die von den führenden Waffenhändlern der Welt geliefert werden.»
Aber ihr stärkster Trumpf ist ihre Motivation und Entschlossenheit in ihrem Streben nach «einem würdigen Leben und Lebensstandard für die jemenitischen Bürger, dem Schutz der Unabhängigkeit der Nation und dem Streben nach Weltfrieden und angemessener gleichberechtigter Zusammenarbeit mit den anderen Ländern der Welt» – wie es in ihrer «Nationalen Vision für den modernen jemenitischen Staat» heißt. Damit haben sie die Unterstützung der Massen in allen Teilen der Gesellschaft gewonnen.
Wie Rune Agerhus, politischer Analyst und Mitglied der Internationalen Kommission für Solidarität mit dem Jemen, schreibt, «ist es der Ansar Allah gelungen, angesichts von Krieg, Hunger und einer lähmenden Blockade ein System zu etablieren, das man am ehesten mit der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung vergleichen könnte. (…) Die Anbauflächen und die Produktion werden von den Kooperativen kontrolliert, die sich vollständig im Besitz der jemenitischen Bauernschaft befinden und von ihr verwaltet werden». Die Verteidigung des Jemen als Ganzes wird an zwei Fronten geführt: «an der Schlachtfront und an der Entwicklungsfront».
Das System der Ansar Allah ist die Antithese zum modernen Kapitalismus. (Nicht zu vergessen: Der Jemen hat bereits Erfahrungen mit dem Sozialismus gemacht, als sein südliches Territorium – von 1967 bis 1990 ein eigener Staat – nach jahrzehntelanger raubtierhafter britischer Kolonialherrschaft über die Region schließlich eine marxistisch-leninistische Regierung bildete.)
In unserer globalisierten, postmodernen, technologiebesessenen Welt, die von westlichen Normen, Technokraten und dem Markt beherrscht wird und von einer Unkenntnis der Geschichte und einer Einschränkung des unabhängigen Denkens geleitet wird, erscheinen die Ansar Allah vielen im schlimmsten Fall rückständig und wild, im besten Fall kurios und exotisch.
Verschiedene Menschen mögen unterschiedliche Ansichten über die Ansar Allah haben und sie dementsprechend beurteilen. Aber die TATEN, die diese Menschen zur Verteidigung eines anderen Volkes, das einem Völkermord ausgesetzt ist, ergriffen haben, vor allem in Anbetracht ihrer eigenen Umstände, sprechen für sich selbst, lauter als alle schönen Worte.
Am 10. April 2025, unter den unaufhörlichen Bombardements des barbarischen Hegemons, richtete der Führer der Ansar Allah, Sayyed Abdul-Malik al-Houthi, einen weiteren dringenden Appell an die Welt, dem palästinensischen Volk zu Hilfe zu kommen und sich unserer ethischen Verantwortung als Teil einer kollektiven Menschheit bewusst zu werden. Wer hört zu? Wo ist die «Weltgemeinschaft»?
Was ist der «Fortschritt», den wir als Spezies nach so vielen Jahrtausenden menschlicher Zivilisation in unserer modernen Zeit machen?
Die in diesem Artikel gemachten Äußerungen decken sich nicht unbedingt mit der Meinung von Al Mayadeen und Transition News, sondern geben ausschließlich die Meinung der Autorin wieder.
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Nora Hoppe, 1954 in den USA geboren, ist als unabhängige Filmemacherin, Drehbuchautorin, Essayistin und Übersetzerin tätig.
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